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Seiner Zeit voraus. Komponist und Pianist Franz Liszt, geboren am 22. Oktober 1811 in Raiding/Doborján, gestorben am 31. Juli 1886 in Bayreuth. Foto: dpa

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Jubiläum: Der radikale Poet

Das Konzert bin ich: Zum 200. Geburtstag des Komponisten und Pianisten Franz Liszt – neue Einspielungen und Perspektiven

Man nehme eine Ente und lasse sie vier Tage in Wein, Zitronensaft und Zwiebelwürze ruhen. Danach stopfe man sie mit Fasanenleber, Karpfenhirn, Trüffeln, Bambusmark, Orangensaft, Erdbeeren und Quittenbrei. Nun grille man das Tier, um es darauf, mit 80-prozentigem Arrak übergossen, brennend zu servieren. Und schon ist sie fertig, die Ente à la Liszt. Diese kleine kulinarische Komposition kreierte Gioachino Rossini zu Ehren des Musikerfreundes und ließ sie 1838 bei einem siebenstündigen Festessen in Mailand servieren. Heute, kurz vor dem 200. Geburtstag des Klaviervirtuosen und Komponisten Franz Liszt, erscheint Rossinis Rezept wie ein Spiegelbild seiner Kunst: Ein rastlos experimentierfreudiger Geist assembliert widerstrebende Ingredienzien zum Zwecke gesteigerter poetischer Sensationen – und präsentiert das Ergebnis mit feurigem Aplomb.

Als überwürzt, unstrukturiert, nach Effekten heischend, haben vor allem deutsche Kritiker Liszts Kunst gerne geziehen. Sie sahen in ihm kein echtes Schwergewicht wie Richard Wagner, seinen Schwiegersohn, sondern eher einen religiös lichternden Salonmusiker. Vielleicht haben sie Liszt auch nicht verziehen, dass er es war, der den einsamen Künstler am Klavier in den Mittelpunkt rückte. 1839 veranstaltete er in Mailand und Rom erstmals Konzerte eines neuen Typs, den wir heute als Recital kennen. „Le Concert c’est moi“, lautete die halbspöttische Parole dieses Unternehmens. Von diesen Selbstgesprächen in Musik gibt Liszt ein typisches Programm preis: „1. Ouvertüre zu Guillaume Tell, ausgeführt von Monsieur Liszt. 2. Réminiscences des Puritans. Fantasie, komponiert und ausgeführt von demselben oben genannten! 3. Etüden und Fragmente, vom demselben und mit demselben! 4. Improvisationen über vorgegebene Themen, – noch immer von demselben.“

Die Pianisten-Zunft dankt Liszt diese herausgehobene Rolle eher schlecht als recht. Man muss ihn spielen, um zu zeigen, dass man keine Furcht vor technischen Herausforderungen hat und noch dazu charismatisch ist. Wie viele h-moll- Sonaten sind in diesem Jubiläumsjahr in die Tasten gehämmert geworden, wie viel Pulverdampf und Schweiß wurden als Zeugen für Wirkungsmacht aufgerufen. Doch selten zeigte sich, wie radikal Liszts Poesie sein kann. Arcadi Volodos gelang im Juni im Konzerthaus eine dunkle Sternstunde, als er in erschütternder Klarheit das Bodenlose dieser Kunst heraus arbeitete, das unausweichliche Vergehen jedes Aufschwungs. Ein Negativabdruck bloßen Virtuosentums.

Weiter könnte die Entfernung zum Megaseller unter den aktuellen Liszt-Alben nicht sein. Lang Lang ruft auf seiner poppig aufgemachten CD „My Piano Hero“ (Sony) Oberflächenreize en gros ab, die Liszt zum lärmenden, traurigen Helden etikettieren, weil nichts mehr erzählt oder gefühlt wird. Es sind die nachdenklichen Pianisten, die für Lichtblicke im Liszt-Jahr sorgen. Pascal Amoyel versenkt sich mit tastender Zartheit in die „Harmonies poétiques et religieuses“ (La dolce volta), die sich unter seinen Händen langsam entfalten wie eine gute Flasche Wein.

Überhaupt ist Liszt, der sich selbst einmal als „musicien-voyageur“ bezeichnete, für jene am wertvollsten, die sich mit ihm auf den Weg machen. Seine „Années de Pèlerinage“ umfassen zweieinhalb Stunden Klaviertagebuch in drei Jahrgängen, entstanden über einen Zeitraum von 40 Jahren. Eine Reise durch Liszts Leben, eine Reise in die Meditation, die die Romantik zu überwinden scheint, eine Tür aufstößt ins 20. Jahrhundert. Louis Lortie, Frankokanadier mit Wohnung in Berlin, ist die Pilgerwege mit Sorgfalt und Eleganz abgeschritten, am Steingräber-Flügel, fern den Stahlgewittern der Steinways. Eine lohnende Doppel-CD (Chandos) – und ein echter Konzerttipp zum Geburtstag. Nach großem Erfolg in Weimar spielt Lortie das komplette Werk in Berlin (siehe Kasten).

Liszt ist den Menschen zumutbar. Und jetzt erstmals in Gänze dokumentiert, zumindest das Klavierwerk eines Komponisten, der sich in allen Gattungen versucht hat, vom Lied bis zur Messe. Der Brite Leslie Howard benötigte 14 Jahre, um alle Solowerke Liszts für Klavier aufzunehmen. Dabei brachte er es auf über 300 Ersteinspielungen und sicherte sich damit einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde. Diese Kraftanstrengung kann man nun auf 99 CDs (Hyperion) nach Hause wuchten und dort auf 1464 Tracks Liszts lebenslange Suche am Klavier nachvollziehen.

Liszts unbändige Kreativität fand ihre Neider, bevor man dazu überging, sie als gedankliche Schwäche zu interpretieren. Wagner gestand ein, dass er dem zu seiner Zeit weitaus berühmteren Kollegen seine Musik neide. „Sie ist unserer Zeit so weit voraus, dass niemand in dieser Zeit sie begreifen wird. Ich habe sie begriffen.“ Sprach’s und bediente sich ihrer reichlich fürs eigene Werk. Die freie Entfaltung von Ideen war Liszt wichtiger als deren letztgültige Aufbewahrung in unantastbaren Werken. Ein Aspekt, der die Schlaglichter, die das Musikfest Berlin auf Liszt werfen wollte, hätte akzentuieren können. In jedem Orchesterkonzert eine seiner zwölf Sinfonischen Dichtungen – das hätte Reibung erzeugt. So aber ruhten alle Erwartungen auf Anima Eterna, dem Originalklangensemble von Jos van Immerseel. Doch was bei Berlioz zu neuen Einsichten führte, blieb bei Liszt ein Laborversuch: Kann Niedrigenergiemusizieren zum Versiegen aller Wärmeströme zwischen Werk und Zuhörern führen? Leider ja.

„Wo kein fester originaler Kern ist, kann nur umschrieben, übersetzt, angenähert, umkreist, weitergesucht werden“, beschreibt Ururenkelin Nike Wagner das Vermögen des leidenschaftlichen Transkribierers Liszt. Zu seinem 200. Geburtstag zeigt er uns, wie festgelaufen unsere Vorstellung von einem Klassikbetrieb ist, der Abend für Abend davon überzeugt ist, genau zu wissen, wie ein Repertoire zu pflegen sei. In diesem Konzert klingt Liszts Stimme schnell brüchig, wenig artikuliert. Denen aber, die sich mit ihm aufmachen, ist er ein aufrichtiger Begleiter, der mal in dieser, mal in jener Gestalt freundlich daran gemahnt, dass die Suche nie zu Ende geht. Und die Kunst ewig lebt.

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