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Im Garten von Odenthal. Jürgen Becker.

© picture alliance / dpa/Marius Becker

Jürgen Becker und sein Journalroman: Das wachsende Meer

Eine Geschichte des Verborgenen: Jürgen Beckers neues Prosabuch „Jetzt die Gegend damals“.

Wenn der Erzähler seinen Blick über den Waldboden wandern lässt, kann er dort kleine Mulden entdecken, die mit Büschen und Bäumen bewachsen sind. Als er ein Kind war, reichten ein paar Meter Abhang für ein Stück Rodelbahn. Doch inzwischen ist die Umgebung gefüllt mit toten Ästen und morschem Wurzelwerk. Nur das Kind in ihm weiß, dass die Mulden Bombentrichter aus dem Zweiten Weltkrieg sind, in denen die Anwohner im Laufe der Jahre ihre Kühlschränke entsorgt haben, Fernsehgeräte, bisweilen sogar Reste von Autos.

Einer der großen Träume des Schriftstellers Jürgen Becker ist es, eine Geschichte des Verborgenen zu schreiben, eine Geschichte der verschwundenen Dinge, aber auch der Ideen und Gedanken, der Entwürfe und Pläne, die allesamt noch da sind, die nur verschwunden scheinen, weil man sie vergessen hat.

Von seinen ersten Büchern an tastet Becker der Gleichzeitigkeit nach. Es ist ein Schreiben, das sich weniger Motiven anvertraut als dem Vergehen der Zeit, dem Zufall der Erinnerung und des Entdeckens. Ein journalhaftes Schreiben, das dem Rhythmus der Tage und Wochen folgt und sich alles anverwandelt, was der Lauf der Assoziationen freisetzt: Erinnerungen, Skizzen der Landschaft, Gedanken über die Zeit und das Lesen, aber auch Traumbilder und alte Fotos.

Dabei können sich die Ideen genauso zu Gedichten formieren wie zu erzählenden Sätzen. In seinen Prosabüchern ist Jürgen Becker in den letzten Jahren immer kürzer geworden. Nach „Journalromanen“ und „Journalgeschichten“ war er zuletzt bei dem Buch „Im Radio das Meer“ (2009) angelangt, das nur noch aus „Journalsätzen“ besteht. Zum Glück hat er sich nicht auf das Wagnis eingelassen, eine Sammlung vom Journalwörtern anzulegen, sondern hat die Richtung geändert. Sein neues Buch ist wieder ein Journalroman. Becker sondiert darin aber keineswegs vertrautes Gelände. Vielmehr soll die Erinnerung vergessen, was sie schon kennt, ja, mehr noch, sie soll immer etwas entdecken: „Es geht darum, dass die Erinnerung sich in Unbekanntes aufmacht; dass sie über die Grenzen ihrer Reichweite hinauskommt.“

Und so schickt er jenen Jörn Winter auf die Reise, den der Leser schon aus vielen anderen Büchern Beckers kennt. Vorsichtig tastet Jörn den Zeiten, Orten und Vorgängen nach, um mehr zu entdecken als nur das, was in den Gedächtnisbildern aufscheint. Was er auf den Streifzügen durch seine beiden Lebenslandschaften in Köln und dem Bergischen Land entdeckt, sind Beobachtungen zu Menschen und Tieren, aber auch die Verschiebungen im Gelände, von Bauerngärten, Feldern und Wiesen hin zu Industriegebieten und „wuchernden Gebilden“ aus Bungalows und Reihenhaus-Zeilen. Und ebenso schnell wie die Landschaften und Erinnerungsschichten ihre Gestalt ändern, können die Sprechformen kippen. Eben noch spricht der Schreibende von Jörn in der dritten Person, schon schiebt sich ein Ich-Satz dazwischen oder eine Anrede als Du. So entsteht ein Gefüge aus wechselnden Verbindungen, immer getragen von einem Nachdenken über das eigene Schreiben.

Das Material muss in Bewegung geraten

Bisweilen gleicht es für Becker einem Wunder, dass seine Aufzeichnungen überhaupt zustande kommen. Denn die Wahrnehmungen und Erinnerungen sind zwar im Hinterkopf vorhanden, sie lassen sich aber nicht einfach abrufen wie Informationen. Es müssen sich schon Wörter und Sätze einstellen, die dieses „reglose Material“ in Bewegung versetzen. Die Sätze sind gleichsam jenes stets veränderbare „Netz von Spuren“, das den Gang der Erinnerung für Momente sichtbar werden lässt. Endlos scheinen die Zustände, in denen nichts passiert, in denen der Erzähler wartet, bis ein vermeintlich nebensächlicher Impuls die nächsten Wörter arrangiert.

Gleichwohl ist hier jede Gedächtnisschicht von Imagination durchzogen, sodass Figuren aus anderen Büchern auftreten können oder die Landschaften sich vermischen. Dazwischen setzen aufgeschnappte Wörter Atmosphären aus Geräuschen und Düften frei, oder der Schreibende lässt sich, manchmal ein wenig aufdringlich, über die digitale Welt mit ihren Tablets und Navigationsgeräten aus. Bis es am Ende noch einmal in die Erinnerung geht, nach Ostende, an die belgische Küste. Dort, in einem kleinen Hotel an der Promenade, entspannen sich die Sätze in Beckers Prosabuch „Erzählen bis Ostende“ (1981), als mündete alles im Wasser: „Am Morgen ließ der Sturm nach. Aber das Meer wuchs weiter.“

So, wie der Erzähler damals mitten in der Beobachtung einer Landschaft in der Vorstellung verschwinden konnte, er lebe in einer ganz anderen Zeit, in der noch das Geräusch von Leiterwagen hörbar war, wird auch im neuen Buch die Gegenwart immer wieder durchlässig. Für Bilder von der Dorfschule, die Jörn nur durch eine Schlucht erreichte, für die Erinnerung an Kriegsnächte mit den Geräuschen der Detonationen. Eines der schönsten Kapitel widmet Becker der Malerei von Lene, Jörns Partnerin im Leben wie in der Kunst. Nicht nur bewohnt sie mit Jörn das kleine Gehöft in den Bergischen Hügeln, ein Fachwerkhaus mit Stall und Scheune. Sie hat auch ein Atelier am Stadtrand, wo ihre Bilder entstehen, Collagen, die mit Momenten verschiedener Fotografien arbeiten, ihre Farbflächen aus der Verwandlung und Komposition solcher Ausschnitte gewinnen. Was Jörn über das Wesen seiner Recherche sagt, gilt auch für Lenes Bilder. In der Welt dieses angenehm offenen Buches scheint es die einzige Nachricht zu sein: „Man kommt, auf der Suche nach Bedeutung, nicht weit.“

Jürgen Becker: Jetzt die Gegend damals. Journalroman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 162 Seiten, 19,95 €.

Nico Bleutge

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