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Jürgen Habermas 2012 bei einer Pressekonferenz im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf.

© Martin Gerten/picture alliance / dpa

Jürgen Habermas über Flüchtlinge: "Mit dem bloßen Aufprall ihrer erschöpften und hilfsbedürftigen Existenzen"

Bislang war Jürgen Habermas ein scharfer Kritiker von Angela Merkel. Er verdammte ihre Griechenland-Politik. Jetzt lobt der Philosoph sie für ihren Umgang mit der Flüchtlingskrise und variiert einen ihrer Sätze.

Wer Macht hat, besitzt das Privileg, Entscheidungen treffen zu dürfen. Er muss es aber auch können. Denn je weniger Entscheidungsoptionen es gibt, desto mehr verengt sich sein Handlungsspielraum. Der Mächtige wird zum Getriebenen, sein Handeln folgt der Entscheidungsnot. Am Ende steht oft die Entmachtung.

In dieser Situation scheint Angela Merkel sich zu befinden. Ihre Umfragewerte zerbröseln, die Flüchtlingskrise droht zum größten Kollateralschaden ihrer seit zehn Jahren andauernden Regierungsära zu werden. Gerade eskaliert der Streit in der Koalition. CSU-Chef Horst Seehofer hat ein Ultimatum bis Sonntag gesetzt und gewarnt, der Freistaat Bayern werde ansonsten „Handlungsoptionen“ für „Notmaßnahmen“ prüfen. SPD-Chef Sigmar Gabriel giftet, die internen Querelen würden „die Handlungsfähigkeit der Regierung“ bedrohen. Am Wochenende tagen die Koalitionsspitzen. Kanzlerinnendämmerung?

Aufrüttelndes Zutrauen

Doch jetzt bekommt Merkel unerwartete Unterstützung. Jürgen Habermas zitiert und variiert, etwas versteckt in einem Gedenktext für seinen Anfang des Jahres verstorbenen Freund, den Soziologen Ulrich Beck, in der „Süddeutschen Zeitung“, einen Satz der Kanzlerin: „Das schaffen wir schon, das müssen wir schaffen.“ Diesem Optimismus hätte Beck gewiss nicht widersprochen, glaubt Habermas, er spricht von „aufrüttelndem Zutrauen“.

Wie die Politik selbst in einem Szenario von „Ausweglosigkeiten“ nicht nur schnell und pragmatisch, sondern auch weise handeln könne, darüber hat Beck immer wieder nachgedacht. Einige seiner Buchtitel wirken wie Stichworte zur aktuellen Lage, etwa „Nachrichten aus der Weltinnenpolitik“. Zu den Aufgaben von Bürgern und Politikern gehöre es, befand er, „fremde Perspektiven“ einzunehmen. Habermas rechnet es Merkel hoch an, in einer Fernsehsendung zugegeben zu haben, ihre Regierung habe nicht rechtzeitig bedacht, „dass uns die Folgen des Bürgerkriegs im fernen Syrien hautnah betreffen könnten“. Eine Abbitte.

Unaufhaltsamer Strom

Eben noch hatte der Frankfurter Philosoph zu den schärfsten Kritikern der Kanzlerin gehört. Wortreich machte er sie mitverantwortlich für die Griechenland-Krise. Nun schreibt Habermas beinahe poetisch von der „bedrängenden Unaufhaltsamkeit des Stroms elender, das größere Elend unter hohem Risiko fliehenden Menschen“. Er ist tief davon beeindruckt, dass die Flüchtlinge die Polizeigewalt an den Grenzen von Mazedonien, Serbien, Rumänien nicht mit Waffen, „sondern mit dem bloßen Aufprall ihrer erschöpften und hilfsbedürftigen Existenzen, durch ihren Hunger, ihren Durst und ihre Krankheit“ überwunden haben. Am Umgang mit den Flüchtlingen zeigt sich, wie zivilisiert Europa ist.

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