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Cover des Romans "Rückvergütung"

© Promo

Jürgen Theobaldys Roman "Rückvergütung": Bis zum Hals im Thermalwasser

Es gibt immer einen Sündenbock: In Jürgen Theobaldys Roman „Rückvergütung“ geht es um gesunde Renter und einen Versicherungsbetrug.

Spätestens seit der Fernsehserie „Stromberg“ weiß man, dass die Versicherungsbranche genügend Stoff für Komödien liefern kann. Dass sie aber auch literaturfähig ist, beweist nun der Schriftsteller Jürgen Theobaldy. Er hat mit „Rückvergütung“ einen schmalen Roman über das Innenleben einer Schweizer Versicherungsgesellschaft geschrieben: eine Farce, deren Bestandteile man leicht auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen entdecken kann und deren Protagonisten einem manchmal siegesgewiss lächelnd in den 20-Uhr-Nachrichten begegnen – dann, wenn sie wegen eines Wirtschaftsdelikts vor Gericht stehen

Harmlos fängt die Skandalgeschichte um die Krankenkasse Corsa an, die im Mittelfeld der Versicherungsanstalten ihr Dasein fristet, sich aber durch kleine Manipulationen einige Vorteile zu verschaffen versteht. Renner, aus seinem letzten Job wegen ein paar Unregelmäßigkeiten entlassen, findet bei Corsa eine neue Anstellung. Er wird von seinen Vorgesetzten damit betraut, 2658 Versicherte, allesamt im Rentenalter, zu betreuen. Nun ist es so, dass keine Krankenversicherung gerne alte Menschen durchschleppen möchte – die liegen ihr nämlich mit chronischen und allen möglichen anderen Krankheiten auf der Tasche. Weshalb es Ausgleichszahlungen unter den Versicherungsgesellschaften gibt. Wer viele Alte aufnimmt, bekommt Geld aus einem Topf. Die Corsa profitiert erheblich von ihren Senioren – durch sie werden Millionen in die Kasse gespült.

Das Seltsame an diesen 2658 Kunden allerdings ist, stellt Renner bald fest, dass keiner von ihnen Rückerstattungen für Arztbesuche, Medikamente oder Reha-Maßnahmen eingereicht hat. Sie müssen in einen „Jungbrunnen gestiegen sein“, um dort „bis zum Hals im dampfenden Thermalwasser zu schwelgen“.

Senioren müssen auch mal krank werden

Mit anderen Worten: Die Sache stinkt zum Himmel. Diese 2658 Kunden existieren nur auf dem Papier. Und Renner ist natürlich nicht ohne Grund eingestellt worden. Er soll ein wenig tricksen und für die Versicherten Krankheiten erfinden, damit die Aufsichtsbehörde keinen Verdacht schöpft. „Während das Leben die körperlichen Beeinträchtigungen mit sich brachte, das endliche, aller Not und allen Altersgebrechen gegenüber gleichgültige, gemeine Leben, hatten die Schäden, die Renner jetzt ersann, eine andere Ursache. Von ihr erhoffte er inständig, sie würde über seine Pensionierung hinaus, bis zu der es allerdings Jahrzehnte hin war, nur ihm selber und Muhrer und Iseli bekannt bleiben. Sonst, kein Zweifel, würde sich für Renner die Lage umkehren.“

Die Lage, man muss kein Prophet sein, um das sehen zu können, kehrt sich um. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Die Affäre, die der glückliche Familienvater Renner mit der Frau seines Chefs Muhrer eingegangen ist, fliegt auf. Oder, wahrscheinlicher, war ohnehin eine abgekartete Sache zwischen Muhrer und seiner Gattin. Und auch die Versicherungsaufsicht kommt dem Betrug langsam auf die Schliche. Dass nämlich vier lange Jahre keine der greisen Karteileichen gestorben ist, musste einem Prüfer ja irgendwann auffallen. Nun geht es Renner an den Kragen. Er soll als Sündenbock herhalten – dafür war er engagiert worden. Denn „was Renner da nicht ausgeklügelt, aber weitergeführt und verfeinert hatte, es war nun einmal nicht dafür geschaffen, aus nächster Nähe angeschaut zu werden.

Betrug in der Finanzwelt - Andere erwischt's

„Aus nächster Nähe“, so hieß Jürgen Theobaldys letzter, vor zwei Jahren erschienener Roman, der im Berlin der Wendejahre ein paar Altlinke in Augenschein nahm – eine Desillusionierungsgeschichte in der dahindämmernden Bundesrepublik, die es plötzlich durch die Wiedervereinigung nicht mehr gab.

Inhaltlich hat dieses Buch mit „Rückvergütung“ nur wenig zu tun, aber aus nächster Nähe werden sie doch beide erzählt: Jürgen Theobaldy wählt einen kleinen Wirklichkeitsausschnitt, schaut sich diesen genauestens an, seziert ihn mit seiner präzisen, immer auch leicht ironisch-manierierten Sprache, lässt seine Figur fast schon sehenden Auges gen Abgrund stolpern und erfasst aber, das ist das Erstaunliche, durch diese Nahsicht ein ganzes verkommenes System.

Die Versicherungsgesellschaft Corsa steht pars pro toto. Auch in der Banken- und Finanzwelt ließen sich ähnliche Geschichten finden und erzählen; ihre Protagonisten würden sich gleichen. Es gibt Strippenzieher und Mitläufer. Und solche, die sich rechtzeitig in Deckung bringen und ungeschoren aus den vermutlich viel zu selten stattfindenden Scharmützeln mit der Justiz herauskommen. Andere erwischt’s. Renner selbstverständlich sitzt tief im Schlamassel und anschließend im Gefängnis. Die wirklich Verantwortlichen versucht er, der nicht gerade ein Sympathieträger und schon gar nicht ohne Schuld ist, noch ein bisschen mitzureißen in den schmachvollen Abgrund. Aber erst einmal steht er ganz alleine da: Job weg, Familie zerbrochen, die Geliebte hat ihn verraten.

Wenn allerdings der Name ein wenig auf seinen Charakter schließen lässt, dann wird dieser Renner wieder aufstehen und neuerlich durchstarten – Mitläufer braucht es immer. Der 71-jährige, in Straßburg geborene, in Mannheim aufgewachsene, heute in der Schweiz lebende Jürgen Theobaldy hat einen solchen angestellten Biedermann hellsichtig und mit bitterer Ironie in eine Romanfigur verwandelt. Ulrich Rüdenauer

Jürgen Theobaldy: Rückvergütung. Roman. Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2015. 146 Seiten, 19,80 €.

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