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Tilda Swinton

© dpa

Julia: Die Kriegerin

Der Wettbewerb nimmt Fahrt auf: Erick Zoncas furioser Film "Julia" zeigt eine Trinkerin, die einen Jungen kidnappt. Tilda Swinton in der Hauptrolle spielt Oscar-verdächtig.

Wenn sie aufwacht, züngelt sie gleich. Ein unruhiges, zuckendes Tier, eine Echse im Paillettenkleid, die ihren Durst stillen muss, sofort, immerzu.

Wenn sie läuft, stakst sie auf Stilettos über den Schotter, schwankt und knickt um, stakst weiter, wahrt irgendwie Haltung am Morgen nach dieser durchsoffenen Nacht. Du Riesengiraffe, sagt ihr Freund Mitch. Es ist ihr einziger Freund.

Ihr Mund ist immer in Bewegung, sie beißt die Zähne zusammen, reißt die Lippen auseinander, grimassiert, hyperventiliert, lacht dreckig, redet dreckig. Wenn sie flucht, klimpert der Modeschmuck, die rote Mähne zottelt ihr ins Gesicht.

Tilda Swinton ist „Julia“,Trinkerin, Gelegenheitsnutte, notorische Lügnerin, ein Wrack, eine Schlampe. Nein: die Königin der Schlampen. Je hoffnungsloser die Lage, desto überwältigender ihre Energie, die Überlebensenergie der Verzweiflung. Bei den Anonymen Alkoholikern hält Julia es keine fünf Minuten aus, aber wenn sie nicht gerade sturzbetrunken in komaähnlichem Schlaf liegt, kämpft sie wie eine Berserkerin. Eine Kriegerin von atemberaubender Körperlichkeit, schonungslos, animalisch, wild, knochig, fragil.

Kein Wunder, dass Tilda Swinton als Bären-Kandidatin gehandelt wird. Regisseur Erick Zonca („La vie rêvée des anges“) mutet ihr in seinem ersten in Amerika gedrehten Film auch allerhand zu: Mehr noch als die Titelfigur hat der Film selbst multiplen Charakter und wechselt mit zunehmendem Tempo die Genres.

Erst das Trinkerdrama à la „Woman under the influence“, mit einer zittrigen, wie von der Sucht infizierten Kamera. Dann – wieder frei nach John Cassavetes – die Los-Angeles-Version von „Gloria“: Wie Gena Rowlands gerät auch die Kinderhasserin Julia an ein Kind, den kleinen Sohn ihrer entmündigten mexikanischen Nachbarin, der bei seinem millionenschweren Großvater lebt. In einer mörderischen Aktion kidnappt sie Tom (Aidan Gould): ihre letzte Chance, um einmal im Leben an Geld zu kommen.

Es ist der Horror: ein panisches Kind, das sich die Hosen vollscheißt, eine überforderte Täterin, die dem Jungen mit der Knarre auf den Kopf zielt, damit er einschläft. Folgt drittens ein Roadmovie unter der gleißenden Sonne der kalifornischen Wüste, viertens eine Verfolgungsjagd über die mexikanische Grenze, fünftens ein knallharter Actionkrimi in Tijuana: Tom wird von lokalen Gangstern gleich noch einmal entführt. Und jedesmal wechselt Zonca die Farben, Dynamik, Dramaturgie und Tonart des Films.

Eine nuancierte Zeichnung der Nebenfiguren bleibt bei soviel ambitioniertem Genre-Mix allerdings auf der Strecke. Der Junge nervt gelegentlich als verwöhntes rich kid, entfaltet bei der unweigerlichen Annäherung der beiden jedoch Spurenelemente von charmant-gewitzten Trotz. Aber kaum dass sich zwischen Julia und Tom so etwas wie eine Beziehungsdynamik entwickelt, wird er kurzerhand wieder in Kofferräume oder Motel-Badezimmer gestopft – damit er den Fortgang der Handlung nicht stören möge. Die Mexikaner wiederum bleiben Latinos aus dem Bilderbuch des Rassisten: Machos, Gangster, Brutalos. Und Toms verwirrte Mama versucht es mit Beten gegen den Alkoholismus – eine psychisch Kranke nach Schema F.

So sehr Erick Zonca an den Nerven des Zuschauers zerrt, so sehr beutelt und zaust er auch seine Figuren, das Drehbuch, die Bilder. Sie alle werden vom Sog einer Zentrifugalkraft erfasst, die Julia heißt; mit ihr geraten sie außer Atem, um sie dreht sich alles. Die Wüstensonne, die wenigstens einmal ihr rotes Haar zum Leuchten bringt. Die Schäbigkeit der Motelzimmer als Kontrastmittel zum vergeblichen Traum vom besseren Leben. Die Räuberpistole, von der Julia in der Grenzstadt Tijuana Gebrauch macht, um fortan unter Schock weiter nach Tom fahnden, zu rasen, zu wüten. Und die Schönheit ihrer Lügen, die in die Lügenkunst des Kinos abstrahlt. Unvermittelt erfindet diese kaputte, zu jeder Wärme unfähige Frau die Zärtlichkeit neu, wenn sie dem Jungen zunächst aus purem Pragmatismus Märchen über seine Mama erzählt und sich selbst damit überrascht, dass sie sich mütterlich um ihr Opfer zu sorgen beginnt.

Die Lüge, die in die Liebe umkippt, die gefühlskalte Frau, die es für ein Kind mit Gangstern aufnimmt: Man kennt das, wie gesagt, von Cassavetes. Aber Tilda Swinton verleiht der klassischen Story eine furiose, fiebrige Gegenwärtigkeit.

Nach einem lauen Beginn kommt der Wettbewerb allmählich in Fahrt, mit den wuchtigen Amerikastorys „There Will Be Blood“ und „Julia“ sowie dem meisterlichen mexikanischen Stillleben „Lake Tahoe“ (siehe S. 28). Die Mauer zwischen den USA und Mexiko wird von Julia auf ihrer Flucht vor der Polizei übrigens mit Karacho durchbrochen. Es dürfte die erste Film-Flucht über die mexikanische Grenze sein, die in der anderen Richtung erfolgt. Darauf einen Tequila.

Heute 12 Uhr und 15 Uhr (Urania), 22.30 Uhr (International), 17.2., 16 Uhr (Berlinale-Palast)

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