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Junge Literatur aus Polen: Die Stunde Nullkommasieben

„Polococktail“: Die Stars der jungen polnischen Literatur kommen nach Berlin. Eine Reise nach Krakau

Von Gregor Dotzauer

Die Geschichte der polnischen Literatur, brachial verkürzt, geht ungefähr so: Im Anfang war Adam Mickiewicz. Aus seinem romantischen Herzen quoll in paargereimten Dreizehnsilbern das letzte große Versepos Europas, der „Pan Tadeusz“. Bis heute betört es die Nation mit der Liebe zwischen dem Titelhelden, Herrn Thaddäus, und der aus einem verfeindeten Adelsgeschlecht stammenden Zosia. Nach seinem Tod 1855 kletterte Mickiewicz in fast jeder polnischen Stadt auf ein Denkmal und hält nun bis weit ins Litauen seiner jungen Jahre Ausschau nach Talenten. Da kam Czeslaw Milosz aus Wilna: ein katholischer Metaphysiker vor dem Herrn, der doch ganz und gar im Reichtum dieser Welt zu Hause war. Mit seinem antistalinistischen Essayband „Verführtes Denken“ beförderte er sich über Jahrzehnte zuverlässig ins amerikanische Exil, bis ihm der Nobelpreis 1980 eine Rückkehr als Dichterfürst ermöglichte. In Krakau liegt er seit dem letzten Jahr in der Krypta der Basilika Na Skalce begraben. Draußen im Garten wispern sich die Bäume seine Gedichte zu, und oben in der Kirche erteilen die Pauliner tränenerstickten Sündern im offenen Beichtstuhl die Absolution.

Inzwischen hört die Nation vermehrt „Das Evangelium nach MC Doris“. So heißt die Titelgeschichte, die „Newsweek polska“ Ende Mai Dorota Maslowska widmete, dem 23-jährigen Inbegriff des neuen polnischen Literaturbetriebs. Schon mit ihrem ersten Roman „Schneeweiß und Russenrot“ (Kiepenheuer & Witsch), den sie als 18-Jährige schrieb und 130 000 Mal verkaufte, qualifizierte sie sich zum idealen Covergirl. Ihr zweites Buch „Paw królowej“ (Der Pfau der Königin) ist nun ein Stück stark rhythmisierter, zum Teil fast gerappter Prosa, in dem sie, Dorota Maslowska, der Pfau der Königin, gelangweilt durchs Haus stolziert und auf einen Anruf der Zeitschrift „Deine Katze“ wartet. Finis historiae.

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Und was ist mit den Lästereien des göttlichen Witold Gombrowicz? Wo bleiben die grotesken Düsternisse von Bruno Schulz? Wie kann man nur die beiden anderen Nobelpreisträger, den Historienerzähler Henryk Sienkiewicz („Quo vadis?“) und den weiblichen Lyriktroll Wislawa Szymborska unterschlagen? Wer erinnert an Jahrhundertdichter wie Zbigniew Herbert und Tadeusz Rozewicz? Wer spricht endlich von Andrzej Stasiuk, dessen Bücher in Deutschland momentan als Polens bedeutendster Literaturexport gelten? Wann kommt Katarzyna Grochola, die von ihren Frauenbüchern gut und gerne doppelt soviel verkauft wie Maslowska, zu ihrem Recht? Gemach, gemach. Solange der Kapitalismus in Polen jung und übermütig ist, verschlingt er jede Tradition, und die Medien erschaffen sich das Bild des Schriftstellers nach dem Muster x-beliebiger Stars. Darüber stöhnen inzwischen schon die, die eigentlich davon profitieren. Man muss dann schon so gewieft sein wie der 1974 geborene Tomasz Piatek („Heroina“) und nicht nur das eigene Image als mal wirklich, mal nicht so wirklich drogensüchtiger Autor pflegen, sondern auch gleich identitätsverwirrten Kollegen eine Personality-Beratung anbieten.

Dabei haben sie tatsächlich andere Dinge im Kopf. Etwa, die kulturelle Übermacht der Alten zu brechen. Deshalb ist für die meisten jungen Autoren auch erst einmal Schluss mit der Poesie, die als Stärke der polnischen Literatur gilt. Sie wollen erzählen, und dass sie dabei so tun, als gäbe es in der Literatur eine Stunde Null, gehört zum Rebellentum. In Wahrheit sind sie zwischen postkommunistischen Trümmern und dem Prunk der Warenwelt mindestens bei der Stunde Nullkommasieben angelangt – und bald beginnt auch für sie die ganz normale Zeitrechnung. Wie weit man mit literaturhistorischer Naivität kommen kann, dafür ist Dorota Maslowska der lebendigste Beweis – auch wenn man von der Frechheit und dem Sprachwitz ihres zwischen Wohnsilos und Jugendgangs angesiedelten Romandebüts im Deutschen nicht alles mitbekommt. Zum Beispiel soll Maslowskas Umgang mit Partizipien einzigartig sein. Innovative Partizipien! Da möchte man glatt mal einen deutsch-polnischen Wettkampf anzetteln.

Scheu sitzt Maslowska zwischen den Büchersteilwänden von Massolit Books in Krakau, bekundet gemischte Gefühle gegenüber dem neuen Europa, zu dem sie neuerdings gehört und möchte wenigstens die löchrigen Gehsteige des alten Polen behalten. „Ich rebelliere, aber ich weiß nicht so recht, wogegen“, sagt sie und hat als frisch gebackene Mutter im Übrigen anderes zu tun. Gut, dass ihr Freund in der Villa Decius, wo sie gerade ein Stipendium hat, auf das Baby aufpasst.

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Massolit Books in der Felicjanek-Straße ist ein verwinkelter Traum von einer Buchhandlung: Polens größter english bookshop mit kulturwissenschaftlichen Schätzen, auf die jede Bibliothek stolz sein könnte – und integriertem Café. Mit Maslowksa sind zwei andere Stars der jüngsten polnischen Literatur gekommen: der 1975 geborene Michal Witkowski und der zwei Jahre ältere Slawomir Shuty. Witkowski, ein promovierter Polonist, erkundet in seinem ersten Roman „Lubiego“ die Welt der Tunten, erst in einem Apartment, dann am titelgebenden FKK-Ostseestrand. Seine Erzählkunst, die durchaus nicht nur auf die eigene community zielt, hat ihm den Ruf eingebracht, ein Nachfolger von Witold Gombrowicz zu sein. Slawomir Shuty dagegen, ausgestiegener Banker, gilt als polnischer Beigbeder: unversöhnlich konsumkritisch und mindestens so mediengeil wie sein französischer Kollege. Shutys Roman „Zwal“ (Der Haufen) schildert das Elend des Angestellten-Alltags: fünf Tage krawattierte Angepasstheit in einer Bank, zweieinhalb Tage drinking and drugging. Shuty™ – der als eingetragenes Warenzeichen firmierende Autor verkauft zu seinen Büchern auch rotweiß gestreifte Krawatten – schreibt unter Pseudonym. Es heißt soviel wie Slawomir aus Nowa Huta (www.nh.pl), womit die Krakau benachbarte sozialistische Modellstadt gemeint ist, die neben dem russischen Magnitogorsk die einzige ihrer Art geblieben ist.

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Der Wortführer des Treffens bei Massolit ist Piotr Marecki, Chefredakteur von „ha!art“ (www.ha.art.pl) . Die Literaturzeitschrift führt fort, was in den Neunzigerjahren unkonventionell bis provokationslüstern mit der Zeitschrift „bruLion“ (Kladde) begann – bis „bruLion“-Begründer Robert Tekieli vom Anarchisten zum Katholiken konvertierte und sich seitdem wie einige seiner Mitstreiter im Dunstkreis der liberalkatholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“ wohler fühlt. Drei Tendenzen, erklärt Piotr Marecki, prägen die junge polnische Literatur: die Rückkehr zu sozialen Themen, ein schwullesbischer Aufbruch und die so genannte Liberatur. Letzteres scheint ein verspäteter Aufguss von Semiologie und Lettrismus zu sein, und wie weit es lesbische Autorinnen vom Rang der 1971 geborenen Ewa Schilling bringen werden, entscheiden langfristig sicher nicht die gender politics. Mehr versprechen die sozialen Themen. Das eine sind Bücher wie „Paris London Dachau“ von der 23-jährigen Agnieszka Drotkiewicz mit ihren Auskünften über die Seelenzustände junger Großstädter. Das andere sind Erzählungen aus der Region, einem Polen B oder Polen C, wie es gerne genannt wird, in dem Arbeitslosigkeit und Alkoholismus regieren. Wojciech Kuczok, Jahrgang 1972, schreibt solche Bücher – und ist doch kein neuer Gorki mit revolutionärem Anliegen, sondern ein kühler, melancholischer Analytiker. Sein in Schlesien spielender Roman „Gnoj“ (Jauche) erhielt 2004 den NIKE-Preis, die wichtigste, nach dem Vorbild des Booker Prize geschaffene Auszeichnung Polens. Auch Daniel Odija, Jahrgang 1974, gehört mit seinem im pommernschen Slupsk angesiedelten Roman „Ulica“ (Die Straße) zu den packendsten Erzählern proletarischer Verhältnisse.

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Ein paar Minuten von Massolit Books entfernt, in den Verlagsräumen von Znak (www.znak.com.pl) , sieht man den Neuaufbruch gelassener. Mit 46 Jahren verlegerischer Erfahrung im Rücken und Namen wie Czeslaw Milosz, Leszek Kolakowski, Pawel Huelle, Ryszard Kapuscinski und vor allem dem jüngst verstorbenen Bestsellerautor Jan Pawel II, schaffen das sogar Lektoren von Anfang dreißig. Znak – auf Deutsch: Zeichen – ist der polnische Suhrkamp Verlag, allerdings mit katholischen Wurzeln, geistes- und sozialwissenschaftlichen Fundamenten und der Organisationsform einer unabhängigen Stiftung. Die literarische Konkurrenz von W.A.B. (www.wab.com.pl) in Warschau ist weit, und der wachsende Buchmarkt ermöglicht trotz Konzentration im Vertriebswesen durch die Medienkaufhäuser der EMPIK-Kette auch den kleineren der rund 500 aktiven Verlage ein Auskommen. An den Büchern von Czarne (www.czarne.com.pl), dem Verlag von Andrzej Stasiuk und seiner Frau Monika Sznajderman, der die Idee einer mitteleuropäischen Literatur konsequent realisiert hat, kommen sie ohnehin nicht vorbei. Und an Maslowska, dem Hit aus Pawel Dunin-Wasowiczs „Lampa“-Verlag (www.lampa.art.pl), der viele Jahre nur das gleichnamige Szenemagazin und literarische Flugschriften veröffentlichte, erst recht nicht.

„Der Hauptunterschied zwischen mir und der Generation von Stasiuk“, sagt der 21-jährige Miroslaw Nahacz, „besteht darin, dass die jetzige Wirklichkeit die einzige ist, die wir kennen.“ Zumindest Andrzej Stasiuk lässt sich von solchen Abgrenzungsversuchen nicht irritieren: Er ist Nahaczs Verleger.

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