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Kultur: Jungfernfahrt

Yundi Li und Seiji Ozawa bei den Philharmonikern

So lieb kann nur wahre Unschuld dreinschauen. Gerade hat der chinesische Wunderpianist Yundi Li die ganz große, krachende Musikmaschinerie betätigt, hat das staunende Orchester, immerhin die Berliner Philharmoniker, gelehrt, was Stahlgewitter sind und wie himmelszart eine Äolsharfe aus den Tiefen eines Steinway-Flügels D klingt, hat sich kopfüber ins erbarmungslose Sechzehntelgerattere des Scherzos gestürzt und in den Haken schlagenden Rhythmen des Intermezzos geschwelgt – und nimmt jetzt, sich eine Locke aus der Stirn pustend, mädchenhaft lächelnd, das notorische florale Dankeschön entgegen. Als wäre gar nichts passiert. Dabei kann man gut nachempfinden, dass der genialische Jugendwurf von Prokofjews zweitem Klavierkonzert bei der Uraufführung 1913 einen vertitablen Skandal heraufbeschwor. Diese permanenten harmonischen Gereiztheiten! Diese bürgerschreckliche Virtuosenfratze! Diese Unspielbarkeit!

Im chinesischen Ranking dürfte Yundi Li derzeit hauchdünn hinter Lang Lang Rang zwei bekleiden – was das diabolisch Fingerfertige betrifft. Musikalisch aber ist der 25-Jährige zweifellos eckiger, interessanter. Seiji Ozawa am Pult der Philharmoniker freut das so ungemein, dass er zum zweiten Jugendwerk des Abends, zu Tschaikowskys selten gespielter Erster („Winterträume“), gleichsam hinübertanzt: wiegende Hüften, bangende Knie, Arme, die ganze Berge von Schlagsahne schlagen. Grandios, wie die Philharmoniker das parieren und ihrerseits zu einem von der Musik regelrecht infizierten Klangkörper verschmelzen: Albrecht Mayer, Emmanuel Pahud und Karl- Heinz Steffens im Bläser-Singsang des Adagios, das Blech in den Fackeln werfenden Ausbrüchen des Finales. Selten hat einen der Verlust der Unschuld so fröhlich gestimmt.

Noch einmal heute, 20 Uhr.

Christine Lemke-Matwey

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