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Kultur: Jurassic Parkett

Glaube, Liebe, Hoffnung: Ist das Stadttheater-System am Ende? In der Akademie Loccum ringen Praktiker und Politiker um Perspektiven für die deutschen Bühnen

Kurz bevor man auf der Landstraße die Evangelische Akademie Loccum erreicht, lockt den Autofahrer rechterhand ein Hinweisschild zum „Dino-Park“. Ob wohl Peter Iden, einst Feuilletonchef der „Frankfurter Rundschau“, vor seinem Auftritt beim Kolloquium zur „Zukunft des deutschen Theaters“ in dem prähistorischen Skulpturenzoo eine Inspirationspause eingelegt hat?

Ein Urviech ist er ja selber: Schon 1970, als sich kluge Köpfe in der niedersächsischen Fort- und Weiterbildungsstätte bereits Gedanken über die Stadt und ihr Theater machten, war Peter Iden dabei. Jetzt, 34 Jahre später, reckt sich der Kritiker in seinem Loccumer Eröffnungsvortrag auf wie ein Tyrannosaurus Rex und faucht seinen Unmut über das aktuelle Bühnengeschehen heraus: Von Torheit und Anmaßung der jungen Regisseure ist da die Rede, von entsetzlich oberflächlichen Interpretationen landauf, landab, von einem Umgang der Theaterleute mit den Klassikern, den allein jene Kritiker bejubelten, „die den Zuschauer noch inniger verachten als die Intendanten“. Mit der „narzisstischen Selbstdarstellung“ auf den Bühnen dieses Landes müsse endlich Schluss sein, die Regisseure dürften ihre Mimen nicht länger nötigen, von ihrer vornehmsten Aufgabe abzulassen, nämlich von der emphatischen Darstellung der Dichtung. „Der Adel des Schauspielers ist es, sich in den Dienst des Werkes zu stellen!“

Nachdem der zürnende Kritiker am nächsten Morgen entschwunden ist, wirkt die Loccumer Wochenendtagung zunächst etwas ausgestorben. Immerhin taugen Idens bissige Bemerkungen zum running gag unter den rund 150 Theaterleuten, Kulturpolitikern und Schauspiel-Aficionados, die hier einen Blick auf die Zukunft der deutschen Bühnen werfen wollen. Ulrich Khuon, der Intendant des Hamburger Thalia-Theaters, zeigt sich erschrocken vom Maß der Frustration, die sich bei Kritikern im Lauf der Jahrzehnte aufstauen könne, und Wolfgang Schneider, Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Uni Hildesheim, glaubt Iden auf dem Weg zurück in die Fünfzigerjahre.

Dorthin jedenfalls will nun keiner zurück. Hart gestritten wird allerdings auch im Fortgang der Tagung, passioniert, wortgewaltig, nicht selten auch eitel. Insgesamt 16 Stunden währt das Brainstorming – und im Publikum fühlt man sich dabei nicht selten wie in der Aufführung eines zertrümmerten Klassikers, so wie das tags zuvor gegeißelt wurde. Was zum einen daran liegt, dass die Moderatoren selten beherzt eingreifen, wenn die unglücklich zusammengestellten Redner-Runden mal wieder alle Aspekte parallel diskutieren. Andererseits liegt es in der Natur der Sache, dass kaum ein Thema so viele Emotionen auslöst wie die Darstellende Kunst. Da wirken die Statements oft wie Puzzlestücke, die durcheinander geraten sind.

Ein roter Faden ist die Kritik an den 151 deutschen Stadt- und Staatstheatern, dem weltweit einmaligen Erbe deutscher Kleinstaaterei. Besonders in seiner Ausprägung als Drei-Sparten-Haus mit Oper, Schauspiel und Ballett muss sich die traditionelle Institutionsform als Gemischtwarenladen mit kunstfeindlichen, schwerfälligen Organisationsstrukturen zeihen lassen, als unnatürlich gefräßige Spezies, die mit viel Subventionsgeld wenig Kultur produziere und darum in den heutigen, mageren Jahren zwangsläufig zur Aussterben verurteilt sei. Unnötig zu erwähnen, dass die anwesende Intendantenriege ihre Häuser – ungeachtet aller gewerkschaftlichen erkämpften Beweglichkeitsbeschränkungen – als zweckdienliche Kunstform verteidigt.

Den Berlinern im Plenum machen die ausufernden Diskussionen, was so ein Drei-Sparten-Haus als lokaler Musen-Monopolist für Pflichten habe, wie viele Jugendprogramme, Club-Nächte, Podiumsdiskussionen man brauche und wie oft Freien Gruppen hier Asyl zu gewähren ist, deutlich, wie weit der pure Kampf gegen die Finanzpolitiker in der Hauptstadt den Blick von der Hauptfrage abgelenkt hat: Welche Rolle kann das Theater in der gewandelten Stadt des 21. Jahrhunderts überhaupt noch spielen?

Keine, befand der Kritiker Robin Detje, und forderte die Dramatik-Dinos auf, ihre Strukturen selber zu zerschlagen, bevor es unqualifizierte Kulturpolitiker tun. Rolf Bolwin, der sein Amt als Direktor des Deutschen Bühnenvereins mal wieder sehr ernst nahm und in seinem Beharren auf der Reformierbarkeit des Systems bis an die Schmerzgrenze ging, warf Detje postwendend eine „Dämonisierung“ des Stadttheatersystems vor. Gelassener formuliert Tobias Wellemeyer, der mitleiderregend müde wirkende, aber geistig hellwache Magdeburger Theaterchef seine Vision: „Was bildungsbürgerlicher Aufklärungsort war, wird interkulturelle Begegnungsstätte, in dem auch die Missverständnisse der Generationen moderiert werden.“

Damit machte er den passionierten Theatergängern im Publikum wenig Hoffnung, die sich hörbar nach Schillerscher Bewusstseinsbildung im Theater zurücksehnten und nach Inszenierungen verlangten, die weniger auf optische Reizwirkungen Wert legen, sondern auf bewegende Inhalte. Klare, einfache Antworten auf die Fragen der Gesellschaft vermag allerdings heute, wo alle Tabus gebrochen, alle Utopien ausgeträumt sind, kein Künstler zu geben. Deshalb stellen die ehrlichen Kinder der Achtundsechziger nur mehr Fragen, sich und den Zuschauern – um den Preis freilich, dass sie die Vorstellung noch frustrierter verlassen, als sie gekommen sind.

Echte Gewissheit können heute allein noch religiöse Menschen genießen, wie bei der Besichtigung des sehenswerten Loccumer Zisterzienserklosters deutlich wurde: „Glauben heißt fliegen lernen“, postulierte die Führerin nebenbei zwischen zwei historischen Anekdoten. Ganz ohne Ironie. Ganz ohne Zweifel. Das geht zu Herzen.

Zurück in den kargen Räumen der Evangelischen Akademie, ging es sofort wieder um Politik. Langmut gegenüber ahnungslosen Volksvertretern wünschte sich Oliver Scheytt von allen Kulturschaffenden. Und klare Vorgaben der Stadtväter, was für ein Theater sie denn in ihren Mauern nun wollten. Der Essener Kulturdezernent selber konnte sich nach diesem Statement entspannt zurücklehnen: Seinen Intendanten schreibt er ganz detaillierte Vorgaben hinsichtlich Uraufführungs- und Schuleinsatzquoten in die Verträge. Der Intendant des Hannoveraner Schauspielhauses, Wilfried Schulz, hat da weniger gute Erfahrungen gemacht: Er beobachtet, dass sich die Politik wie überall auch im Kulturbereich mutlos auf die Mitte zurückziehe. Ein Vorwurf, der postwendend den Bühnenleitern selber gemacht wurde. Einen „Strauß bunter Blüten“ zu präsentieren, wie es selbst die sonst so kämpferische Frankfurter Schauspielchefin Elisabeth Schweeger hier für sich reklamierte, wollte als Zieldefinition moderner Stadttheaterarbeit dann doch nicht recht überzeugen.

Was viele Intendanten aus ihrer Innensicht nicht wahrnehmen: Viele Künstler wollen gar nicht mehr in traditionellen Institutionen arbeiten und entscheiden sich, als Selbstständige auf eigenes Risiko Kunstprojekt um Kunstprojekt zu akquirieren.

Ein Pionier dieser Bewegung, Norbert Kentrup, verzaubert die erschöpften Teilnehmer mit einem „gespielten Vortrag“ über das Londoner Globe Theatre. Hinreißend engagiert erklärt der Schauspieler, wie das Publikum im offenen Rundhof der Shakespeare-Bühne zum Mitakteur, zum Partner des Schauspielers wird – und die Szene damit wirklich zum öffentlichen Platz.

Später setzt er gemeinsam mit seinem Kollegen Martin Lüttge noch eins drauf: Nachdem sich die Debatte mal wieder so richtig festgefahren hat, erfalten die beiden in Ehren und im Freien Theater ergrauten Mimen ihre Vision eines Theaters aus Liebe, eines Agierens in demokratischen Strukturen und ohne Regisseur, geboren aus der Naivität der puren Spielfreude, frei von intellektuellen Konzepten – und von Distanz zum eigenen Tun. So fiel das Schlusswort dieses Zukunftskongresses wiederum Vertretern einer vom Aussterben bedrohten Art zu. Zwei sympathischen Sauriern.

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