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Jurjews KLASSIKER: Geschichte im Guckloch

Sind Wiederentdeckungen deshalb so beliebt, weil die Kurzsichtigkeit oder Blindheit früherer Generationen uns die Genugtuung schenkt, Ungerechtigkeiten weitsichtig wiedergutzumachen? Im Fall von H.

Sind Wiederentdeckungen deshalb so beliebt, weil die Kurzsichtigkeit oder Blindheit früherer Generationen uns die Genugtuung schenkt, Ungerechtigkeiten weitsichtig wiedergutzumachen? Im Fall von H. G. Adler und seinem Roman „Panorama“ müsste die Genugtuung besonders groß sein, obgleich mit einem bitteren Beigeschmack: Dieses einzigartige Buch gibt tiefe Einblicke nicht nur ins Wesen der Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reichs und in die Umstände, die zur Entstehung dieser Maschinerie führten, sondern auch in die Unfähigkeit der Zeitgenossen, solche Bilder wahrzunehmen und zu verkraften.

„Panorama“, das zwischen Juni und November 1948 im englischen Exil geschrieben wurde und erst 1968 einen Verlag (Walter) fand, blieb trotz vieler berühmter Fürsprecher wie Heinrich Böll oder Elias Canetti erfolglos, was auch eine Neuauflage 20 Jahre später bei Piper nicht wesentlich änderte. Durch Unbekanntheit bin ich ziemlich berühmt, bemerkte einmal H. G. Adler. Nun sind zwei weitere Jahrzehnte vergangen. Wie wird der Versuch, Adler zu seinem 100. Geburtstag am 2. Juli einen neuen Auftritt zu verschaffen, diesmal ausgehen (Zsolnay Verlag, Wien 2010, 592 S., 29,90 €)?

Als Erstes muss man über Adlers „Roman in zehn Bildern“ wissen: „Panorama“ ist ein Panorama. Das ist seine eigentliche Gattungsbezeichnung, sein Konstruktionsprinzip und die kürzeste Bedienungsanleitung. Die Funktionsweise und Einrichtung eines Panoramas aus den K.-und-k.-Zeiten wird im ersten Kapitel des Buchs detailreich demonstriert: Rund um ein vielflächiges Holzgehäuse sind hohe Sessel aufgestellt. Vor jedem gibt es zwei runde Öffnungen, das sind die zusammen mit einem Metallschirm abgeblendeten Gucklöcher.

Die Augen hält oder presst man an den Schirm, und schon kann man dem Programm folgen. Neun der zehn Kapitel zeigen (nicht beschreiben, nicht erzählen – zeigen!) je einen Lebensabschnitt von Josef Kramer, dem Alter Ego des Autors – von seiner Kindheit in Prag, einem kleinbürgerlichen, vollkommen „verdeutschten“ jüdischen Haus, bis zu einem Todeslager. Auch jedes dieser Bilder ist eine Art Panorama: Seine Episoden sind ebenfalls Standbilder, die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit im Guckloch abwechseln. Mehr noch: Jeder Satz, fast ausnahmslos im zeigenden Präsens, ist ebenfalls ein mikroskopisches Panoramabild.

Adlers Phrase veranschaulicht freilich nicht nur das Äußere, sondern auch den Innenbau des Moments, sein Röntgenbild: Gefühle, Gedanken, Beweggründe. „Verbildlichung der Zeit“ nannte Adler, der 1910 in Prag geborene und 1988 in London gestorbene Schriftsteller und Gelehrte, der letzte Dichter der „Prager Schule“ und der Begründer der Soziologie der Massenvernichtung dieses von ihm bis zur letzten Konsequenz angewandte Verfahren.

Heute würde man sagen: Die Struktur von „Panorama“ ist fraktal. Im letzten, zehnten Kapitel, in dem Josef Kramer auf einem englischen Rasen liegt und über sein Leben als „Objekt der Geschichte“ nachdenkt, wird die Bedeutung des Bildes „Panorama“ ausführlich, vielleicht zu ausführlich erläutert – H. G. Adler wusste immer, was er schrieb, und das war vielleicht sein größtes Problem als Dichter.

Ich habe gegen dieses Werk, das ich sehr schätze, nur zwei Einwände zu erheben: Es hält sich vielleicht zu ausführlich an die einmal gewählte Form, und seine Substanz ist zu reich, so äußerte sich Elias Canetti über den Roman seines Freundes und meinte diese Strenge des Verfahrens, diese unabdingbare Konsequenz. Unterschwellig könnte man in Canettis Worten einen leisen Zweifel an den dichterischen Qualitäten von „Panorama“hören, denn die Dichtung lebt nicht ohne das Unerwartete, ein Dichter setzt sich Gesetze, um sie gelegentlich zu brechen.

Darüber, ob es so ist, muss jeder Leser sein eigenes Urteil fällen. Doch falls „Panorama“ eine dichterische Niederlage ist, gehört sie zweifellos in die Abteilung der großen Niederlagen, die nicht nur die Literatur, sondern auch das menschliche Wahrnehmungsvermögen weiterentwickeln. Mindestens das müssen wir uns für die Zukunft merken, egal wie der aktuelle Versuch ausgeht, H. G. Adler als einen großen Autor zu etablieren.

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