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Kultur: Justitias Augenbinde

Das 21. Jahrhundert hat viele Chancen, eine globale Ära der Gerechtigkeit zu werden. Wo immer sich Diktatoren wie Saddam Hussein vor Gericht verantworten, blickt auch die demokratische Welt auf eigene Versäumnisse zurück

Von Caroline Fetscher

Unlängst entwarf ein in New York lebender Künstler ein haushohes „Denkmal für die Internationale Gemeinschaft“. Es zeigt eine Konservendose auf einem quadratischen Sockel. Man vermutet einen Warhol-Epigonen, doch der bosnische Künstler spielt nur mit diesem Zitat. Wie auf einer Litfasssäule zieren die Dose Beschriftungen aus Krisenzeiten: „Canned Beef, Netherlands“, oder „Care – World Food Organisation“. Auf dem Sockel dann eine lakonische Inschrift: „Die dankbaren Bürger von Sarajevo“.

Der Künstler Nebosja Seric-Shoba würde sein Mahnmal gern vor dem Präsidentenpalast von Sarajevo aufstellen. Erinnern soll es an die bitteren Phasen des Bosnienkrieges, die Jahre der Belagerung, in denen Blauhelmsoldaten der Uno vor allem sich selbst schützten, bis die internationale Gemeinschaft das Land mit dem Dayton-Abkommen teilte und den Tyrannen,der vor den Augen der Uno hatte morden lassen, vor Gericht stellte. Hier, vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, verantwortet sich Slobodan Milosevic seit fast zwei Jahren. Mit vor Gericht steht gewissermaßen auch die demokratische Welt, die ihn damals walten ließ. Prozesse wie der von Milosevic schärfen das globale Rechtsbewusstsein.

Fragen eines lesenden Arbeiters

Eichmann in Jerusalem, Milosevic in Den Haag, Saddam Hussein in Bagdad: Ikonen der modernen Rechtsgeschichte. Jedes spektakuläre Strafverfahren im dynamisch sich verändernden internationalen Recht beschleunigt zugleich den globalen Prozess der Demokratisierung. Die mahnende Frage, die sich im Denkmal des Bosniers in New York manifestiert, lautet: Auf wessen Seite wart ihr? Wenn nun in absehbarer Zeit mit Saddam Hussein der nächste Diktator vor seinen Richtern steht, wird mit diesem Prozess auf ähnliche Weise eine Antwort gesucht auf die für eine Zivilisation existentielle Frage, wie es dazu kommen konnte, dass er überhaupt und so lange an der Macht war.

Dies ist um so wichtiger, als funktionierende Demokratien heutzutage den globalen Umgangston angeben. Sie haben die moralische Deutungshoheit errungen und bestimmen auch den Fortgang des Völkerrechts, insbesondere des Völkerstrafrechts.

Da kann es sinnvoll sein, sich an Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ zu erinnern: Wer baute mit, an den Diktaturen? Ja nicht nur die Maurer und Fliesenleger der Paläste und Folterkammern, sondern auch die übrige Welt, die westliche eingeschlossen. Wer verfolgte eine Politik des Appeasement? Wer verhandelte mit Verbrechern an der Spitze von Staaten, auch dann, als ihr Handwerk längst bekannt war? Wer lieferte die Werkzeuge – Waffen, Giftgas, Panzer? Wer importierte Waren aus dem Sklavenreich? Für eine moderne, demokratische Gesellschaft, die von Mal zu Mal dazulernt, sind die Antworten darauf von Mal zu Mal unangenehmer.

Als Joachim von Ribbentrop neben zwei Dutzend weiteren nationalsozialistischen Angeklagten 1945 in seiner Nürnberger Zelle saß, dachte er über Zeugen nach. Nicht über Zeugen der Anklage, sondern über Zeugen zu seiner eigenen Verteidigung. Unter anderem fiel ihm Churchill ein. Wie viele Mithäftlinge hatte der NS-Diplomat zu Amtszeiten mit namhaften Würdenträgern auch feindlicher Länder verhandelt. Irgendwann, berichtete Ribbentrops Anwalt Sauter, strich er Churchill zwar kleinlaut von seiner Liste, beharrte jedoch auf Lord Londonderry und anderen. 1946 erging das Todesurteil.

Auch Slobodan Milosevic hat eine Wunschliste prominenter Zeugen zusammengestellt. Wenn er mit seiner Verteidigung beginnt, etwa Mitte 2004, will er Madeleine Albright, Richard Holbooke, Bill Clinton und Tony Blair zitieren. Zwar dürfte ihm das kaum gelingen. Aber haben ihm nicht alle die Hand geschüttelt, selbst als er schon dabei war, im alten Jugoslawien die serbische Dominanz mit Gewalt durchzusetzen? Es ändert nichts an seiner Verantwortung für seine Taten, eröffnet indes eine weitere, wichtige Perspektive. Und es stellt die Frage nach der Definition von politischer Mitschuld und „unterlassener Hilfeleistung“.

Tausende von Hinterbliebenen der Opfer von Srebrenica versuchen derzeit über einen Anwalt in Mostar, Schadenersatz von der Uno und den Niederlanden einzuklagen, bisher vergeblich. Dabei hatten Blauhelmsoldaten es geschehen lassen oder sogar mitgeholfen, als General Mladic im Sommer 1995 Männer von Frauen und Kindern trennen und abtransportieren ließ. Ein Vergehen, ja, ein Verbrechen möglicherweise.

Mit ebenso viel Recht könnten die Opfer von Ruanda klagen, die Opfer im Kongo oder in Sierra Leone, ganz zu schweigen von jenen Lateinamerikanern, deren Militärjuntas Besuch aus aller Welt empfingen: Franz-Josef Strauß überreichte Augusto Pinochet als Gastgeschenk gar ein Paar feinziselierter Schmuckpistolen. Staatsmänner aus dem Apartheid-Südafrika landeten unbehelligt auf vielen Flughäfen der freien Welt, um dort zu shoppen oder Geschäfte zu machen. Und im Kalten Krieg wurde die reaktionäre Religionsdoktrin der Taliban gern gegen kommunistische Einflüsse in Anschlag gebracht. Fast nirgends wurde in diesen Fällen mit der demokratischen Opposition verhandelt, Dissidenten, Exilanten oder regierungsunabhängige Organisationen wurden kaum gehört. Lieber verhandelte man, vermeintlich ranggleich, von Führung zu Führung.

Gleichgewicht des Schreckens

Saddam Hussein wird ebenfalls nicht darauf verzichten, westliche Spitzenpolitiker als Zeugen laden zu wollen. Das Foto, auf dem er und Donal Rumsfeld sich die Hand geben, ist unvergessen. Die Waffenlieferanten an den Irak in den letzten zwei Jahrzehnten sind großenteils längst bekannt. Neben der „Coalition“, die den Diktator nun endlich zu Fall brachte, verdiente auch halb Europa an den Exporten mit, selbst zu Zeiten, als die Akten von Amnesty International längst überquollen von Dokumentationen über die Schreckensherrschaft.

Im Machtmissbrauch auch allerhöchster Staatsmänner sieht der überwiegende Teil der Welt keinen Kavaliersdelikt mehr. Damit ist es seit dem Ende des Kalten Krieges, der für sein „Gleichgewicht des Schreckens“ immer wieder ethische Überzeugungen opferte, auch immer weniger möglich, die indirekte Mittäterschaft zu leugnen, die sich aus Händeln und Handel mit kriminellen Potentaten ergibt. Parallel zum rechtskulturellen Umbruch und zum Beginn einer neuen Epoche des internationalen Rechts wächst also das Bewusstsein für eine global political correctness. Sie wächst gerade in den Staaten, die die Globalisierung des Rechts am heftigsten betreiben.

Darum mag es unfair erscheinen, ihnen frühere Verfehlungen und Mängel vorzuhalten, da sie diese ja einzusehen beginnen. Selbst dann, wenn das neue globale Rechtsbewusstsein nicht aus reinem Respekte vor den Menschenrechten entsteht, sondern aus dem Kalkül heraus, dass nichtdemokratische Territorien Brutstätten des Terrorismus sind.

Deshalb ist die retrospektive Schuldzuweisung an jene, die keinen Einspruch gegen Diktaturen erhoben, eine prekäre Angelegenheit. Einerseits ist sie wichtig aus Gründen politischer Glaubwürdigkeit. Andererseits hat sich der einsichtige, demokratische Staat mit der neuen Politik der Härte gegenüber Diktaturen ja aus eigener Kraft gehäutet und neu orientiert. Jetzt hilft er anderen Staaten, auf die demokratischen Füße zu kommen. Westliche Politiker fürchten die Konsequenzen der Aufarbeitung ihres Verhaltens in der Vergangenheit nicht nur ökonomisch. Denn sie kann auch eine politische Diskreditierung zur Folge haben.

Die Konsequenzen, die demokratische Machthaber aus den Erfahrungen spätestens seit Bosnien ziehen können müssen, liegen dennoch auf der Hand: Auch in allen heutigen undemokratischen Staaten gibt es demokratische Opposition. Sie sollte wie ein „government in waiting“ behandelt werden, bei Fragen der Asylpolitik wie bei Kreditvergaben, bei der Organisation von Austauschprogrammen wie bei Gästelisten. Damit nicht noch mehr haushohe „Denkmale für die Internationale Gemeinschaft“ errichtet werden müssen.

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