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Kultur: Käthe Reichel: Der gute Mensch von Berlin

Am 8. August 1956, wenige Tage vor seinem Tod, schreibt Brecht an den Sowjetischen Schriftstellerverband: "Käthe Reichel, die Euch diesen Brief übergibt, ist eine der begabtesten Schauspielerinnen des Berliner Ensembles und auch in Westdeutschland sehr bekannt.

Am 8. August 1956, wenige Tage vor seinem Tod, schreibt Brecht an den Sowjetischen Schriftstellerverband: "Käthe Reichel, die Euch diesen Brief übergibt, ist eine der begabtesten Schauspielerinnen des Berliner Ensembles und auch in Westdeutschland sehr bekannt." Er ergänzte sie in seinem Brief (es ist der vorletzte, der von ihm überliefert ist) mit dem Auftrag, an die junge Schauspielerin für ihren Aufenthalt in der Sowjetunion 1.000 Rubel von seinem Honorarkonto zu übergeben - eine damals sehr ansehnliche Summe. Für den schon schwerkranken Dichter war diese Fürsorglichkeit darin begründet, dass er in Käthe Reichel eine Darstellerin ganz nach seinen Vorstellungen gefunden hatte, der er mehr als nur freundschaftlich nahe stand.

Nach kurzen Engagements in Greiz, Gotha, Rostock kam die am 3. März 1926 in Berlin unter dem Namen Waltraut Reichelt geborene junge Frau ohne künstlerische Ausbildung ans Berliner Ensemble - und überzeugte Brecht sofort durch ihre direkte, unverbildete, ein wenig auch raue Naivität. Sie hatte den sparsamen Gestus der einfachen Leute, verfügte über einen unverwechselbaren, leicht klagend gefärbten Ton. Gerade weil ihr alles Liebliche, Jungmädchenhafte, "Hübsche" fehlte, entsprach sie Brechts Vorstellungen von sozialer Genauigkeit und von plebejischem Selbstbewusstsein.

Mit Gustchen im Hofmeister (1950), der Margarete im Urfaust (1952) begann Käthe Reichel am Berliner Ensemble, 1954 spielte sie die Grusche im "Kaukasischen Kreidekreis" in Frankfurt am Main unter Brechts Regie, 1957 dann in Benno Bessons Inszenierung Shen Te/Shui Ta im "Guten Menschen von Sezuan". In dieser Rolle sah ich sie zum ersten Mal, verblüfft über eine verschmitzte Fröhlichkeit, die sich in eine mühsam erzwungene, gewaltsame Bösartigkeit zu wandeln vermochte. Und doch, die Besonderheit der Reichel, gegen Klischees geradezu aufsässig anzuspielen, forderte von ihrem Publikum immer besondere Aufmerksamkeit - und Toleranz. 1961 wechselte sie zum Deutschen Theater, dort hatte ihr Wolfgang Langhoff schon ein Jahr vorher die Minna von Barnhelm in Lessings Lustspiel übertragen - zur Überraschung vieler. Aber Käthe Reichel feierte einen Sieg.

Mit Benno Besson, später auch mit Wolfgang Langhoffs Sohn Thomas fand Käthe Reichel Regisseure, die ihre Eigenart achteten und förderten. Sie spielte in Stücken von Brecht, Hebbel, Kleist, Horváth, Handke nicht nur im Deutschen Theater Berlin, sondern auch in Frankfurt, Stuttgart, Hamburg. Ihre Lieblingsrolle, die Johanna Dark in Brechts "Heiliger Johanna der Schlachthöfe", durfte sie am Berliner Ensemble nicht spielen - 1961, unter Benno Besson, verkörperte sie das Heilsarmee-Mädchen in Stuttgart.

Schon seit langem ist Käthe Reichel nicht nur Schauspielerin. Sie mischt sich ein, sie geht auf die Barrikaden. Ungerechtigkeit und Unterdrückung, Blutvergießen und Terror sind ihr unerträglich wie vielen - aber sie bleibt nicht still, sie redet und sorgt für Unruhe. In den Wendejahren 1989 / 90 trat sie energisch für die sozialen Rechte der von der Vormacht der Einheitspartei Befreiten ein, was es laut zu sagen galt, sagte sie laut. 1995 rief sie mit Heiner Müller zu der Aktion "Mütter, versteckt eure Söhne auf", empört über den grausamen Krieg in Tschetschenien. Bühne und Leben sind für sie nicht trennbar.

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