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© dpa

Kafka-Forschung: Der Schnüffler

Wie ein britischer Biograf Franz Kafka zum Porno-Fan erklärt und Altbekanntes neu enthüllen will.

Auf dem Buchumschlag reitet Franz Kafka auf einem phallischen Pfeil durch den Himmel. Es ist das Cover zu James Hawes’ 243-seitigen Werk „Excavating Kafka“, das gestern in England erschienen ist. Gelesen hat es bisher wohl kaum jemand, und der Autor gilt in der internationalen Kafka-Gemeinde noch als Nobody. Aber seine seit einigen Tagen in der englischen Presse verbreiteten Thesen, der große, unglückliche Jahrhundertautor sei auch ein heimlicher, geiler Pornoleser gewesen, sie schlagen jetzt auch hierzulande Wellen. Die „Welt“ frohlockt: Der „literarische Säulenheilige“ Franz Kafka sei nun „endlich vom Sockel gestürzt“. Und selbst das seriöse Internet-Portal „Perlentaucher“ spricht ohne Vorbehalt von „Kafkas Pornosammlung“, aus der es „leider“ noch keine Bilder gebe.

Ein solches angebliches „Porno“-Bild ist die auf dieser Seite zu sehende Jugendstil-Lithographie des berühmten, später den Nazi-Schergen nur knapp entkommenen „Simplicissimus“-Zeichners Th. Th. (Thomas Theodor) Heine. Aber was sagt Mister Hawes, der im „Guardian“ stolz mitteilt, er habe „zehn Jahre lang über Kafka promoviert“? Er hat in zwei Oxforder Bibliotheken Exemplare der beiden deutschsprachigen Zeitschriften „Der Amethyst“ und „Die Opale“ entdeckt, die Kafka regelmäßig gelesen und – was er nun als erster Forscher enthülle – in einem Schränkchen in der elterlichen Wohnung eingeschlossen habe. Den Schlüssel dazu habe er eigens in die Ferien mitgenommen. Das von ihm, dem „heiligen“ Dichter, somit Verschlossene („Kafka’s porn“) enthülle jetzt nicht weniger als „die Wahrheit über sein ganzes literarisches Leben.“ Schreibt der Brite.

Und fährt fort, nach einem Bericht der Londoner „Times“: Kafkas Pornos seien knallhart („quite dark“), mit „Fellatio ausübenden Tieren“ und, ja wirklich, „girls on girls“, das alles sei „höchst unerfreulich“. Was indes sagen hierzu drei unumstrittene Kafka-Koryphäen? Reiner Stach, der soeben den zweiten Band seiner weltweit beachteten und unschlagbar materialreichsten Kafka-Biografie veröffentlicht hat: „Es gibt keine Enthüllungen, und es geht nicht um Pornographie. Auch muss man Kafka von keinem Sockel mehr stoßen. Seit mindestens 40 Jahren weiß man , dass der junge Kafka mit seinem Freund Max Brod in die Prager Bordelle gegangen ist und in den Weinkneipen mit den Schankmädchen flirtete.“

Hans-Gerd Koch, Mitherausgeber der Kafka-Tagebücher im S. Fischer Verlag: „Alles, was man bisher aus England hört, klingt nach völligem Quatsch. Es ist das längst bekannt und publiziert, und die beiden Zeitschriften sind erotische, keine pornographischen Publikationen. Der Mann in England ist offenbar ein verspäteter viktorianischer Puritaner!“ No sex, please, we are British? Das nimmt auch Klaus Wagenbach an, nach Selbstauskunft bekanntlich „Kafkas dienstälteste lebende Witwe“. Ihn haben die Meldungen in der toskanischen Sommerhitze erreicht und er hat Indizien, dass James Hawes wohl gar kein Deutsch lesen kann.

Wagenbach hatte schon in seiner, 1957 zuerst publizierten, seit zwei Jahren im eigenen Verlag wieder aufgelegten Dissertation „Franz Kafka. Biographie einer Jugend“ darauf hingewiesen, dass Kafka und Max Brod die beiden kostspieligen Zeitschriften aus Sparsamkeit gemeinsam abonniert hatten. Das war 1906, als Kafka im juristischen Examen steckte und (nicht nur deswegen) allerlei Ablenkung brauchte. Wagenbach hat bei seinen lebenslangen Kafka-Forschungen auch beide Magazine eingesehen: „Das waren in jeweils nur 800 Exemplaren Auflage aufwändige Drucke, ohne Fotos, nur mit Graphiken, die eigens durch eingelegte Seidenpapiere geschützt waren. Es gab auch ein bisschen Schweinkram, doch von der Art, die man damals als ,elegant-galant’ bezeichnete.“

Tatsächlich sind beide Zeitschriften nur jeweils etwa ein Jahr erschienen. Der Schriftsteller Franz Blei gab den „Amethyst“ und „Die Opale“ heraus – mit Texten von Goethe und Casanova bis zu Rimbaud, Oscar Wilde oder Max Brod; auch der erste expressionistische deutsche Roman ist darin erschienen. Und eben jugenstilig erotische Lithographien von Aubrey Beardsley, Kubin, Félicien Rhops oder Th. Th. Heine. Franz Blei hat in einer Folge-Zeitschrift einen ersten Text von Franz Kafka veröffentlicht, der seinerseits Bleis Roman „Die Puderquaste“ renzensierte. Das alles sind Verbindungen und Fakten, auf die nicht zuletzt der auch längst ins Englische und Amerikanische übersetzte erste Band der Kafka-Biografie von Reiner Stach gleich zu Beginn emphatisch hinweist.

Die angeblich so ominösen Zeitschriften gibt’s noch in zahlreichen Bibliotheken. Der „Amethyst“ wurde bis jetzt von dem Hamburger Antiquariat Keip annonciert. „Drei Jahre lang“, sagt die Geschäftsführerin, „nun haben wir ihn am Mittwochabend verkauft.“ Bliebe als angebliche Entdeckung das verschlossene Kästchen. Aber da belehrt uns ein Brief von Kafka an Brod, aus der Urlaubsfrische im August 1907 geschrieben: „Ja, wenn ich auch die ,Amethyste, hätte, würde ich Dir die Gedichte abschreiben, aber ich habe sie im Bücherkasten zuhause und den Schlüssel habe ich bei mir, um ein Sparkassabuch nicht entdecken zu lassen, von dem niemand zu Hause weiß und das für mich meinen Rang in der Familie bestimmt.“ Kafka wohnte noch als Erwachsener in einem Durchgangszimmer der elterlichen Wohnung – und die Mutter schnüffelte gern. Wie ein britischer Biograf.

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