zum Hauptinhalt

Kultur: Kahn & Kohlhaas

Rüdiger Schaper verteidigt den Torwart der Nation Jetzt erst, Monate nach dem Endspiel, begreifen wir allmählich das Ausmaß der Tragödie. Die deutsche Fußballnationalmannschaft ist nicht Weltmeister geworden!

Rüdiger Schaper verteidigt

den Torwart der Nation

Jetzt erst, Monate nach dem Endspiel, begreifen wir allmählich das Ausmaß der Tragödie. Die deutsche Fußballnationalmannschaft ist nicht Weltmeister geworden! Ein Fluch liegt auf den Helden des Sommers. Ballack (und mit ihm der FC Bayern München) humpelt und rumpelt und stolpert. Kahn wankt und schwankt wie ein Rohr im Wind – und Brasiliens Matchwinner Ronaldo trifft bei seinem neuen Club Real Madrid auch noch nicht richtig.

Der Sieger geht leer aus, heißt es bei Hemingway. Und wie ergeht es erst dem zweiten Sieger !? Lange muss man in der Weltliteratur nach einem Helden forschen, dessen Mythos auf das Schicksal von Oliver Kahn gemünzt scheint. Herkules? Der wurde nach all seinen titanischen Aufräumarbeiten von der eigenen Gattin vergiftet – nun, so weit wird es nicht kommen, auch wenn die BILDZeitung dem Torwart der Nation unbedingt eine Affäre mit der Schlagertante Michelle verpassen möchte. Tag für Tag ventiliert der Boulevard auf bigotteste Art und Weise geile Gerüchte, und Talkshow-Kerner spielt auch mit. Wie beim Fußball: Es wird so lange im intimen Strafraum herumgestochert, bis die Kugel im Netz liegt. Und der Mann im Tor am Boden, erledigt.

Hat Kahn nicht selbst am ärgsten unter seinem Fehlgriff im WM-Finale gelitten, er, der sonst so Untadelige, Unerbittliche? Deutsche Tugenden, deutscher Charakter – wenn es so etwas in Reinkultur gibt, dann bei Heinrich von Kleist. Man erinnert sich, wie Michael Kohlhaas, der Pferdehändler, zum Mordbrenner und Desperado mutiert, als ihm menschlich aufs Übelste mitgespielt wird. Kohlhaas fällt in den Wahnsinn, weil er das Recht auf seiner Seite hat, und das setzt er durch, mit teutonischem Tunnelblick.

Kohlhaas, „einer der rechtschaffensten und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“, so heißt es bei Kleist: Wie soll das mit Olli Kahn nur enden, der sich immer tiefer in der öffentlichen Demontage verstrickt, auch wenn – und gerade wenn – er sich ruhig verhält? Kohlhaas zog plündernd und brandschatzend durch die deutschen Lande, Kahn spielt Golf und geht in die Disco bis zum frühen Morgen. Das sind die feinen Unterschiede: Kohlhaas wurde hingerichtet, Kahn könnte ins Ausland wechseln. Aber: Kohlhaas verschlang auf dem Schafott einen indiskreten Zettel, der den Landesfürsten belastete. Da war er besser dran – wie soll Oliver Kahn all die schmierigen Aufmacher schlucken, die er täglich vorgesetzt bekommt.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false