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Sinnvolle Ergänzung oder Kassiber einer buchfeindlichen Medienwelt? Ein E-Book zwischen Büchern.

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Kampf zwischen alten und neuen Medien: Digitale Informationen sind Wegwerfinformationen

Mit dem Internet steigt die tägliche Informationsflut. Hunderte von Mails, Blogs oder SMS prasseln auf uns ein. Der Internetphilosoph David Gelernter plädiert für ein langsameres Denken in einer immer schneller werdenden Gesellschaft.

Weil Worte uns zu Menschen machen, weil Wörter das Rohmaterial sind, aus dem wir Kommunikation und Literatur und manchmal das Denken selbst errichten, ist es nur natürlich, dass wir Wörter mit Respekt behandeln. Am Ende ist es die Würde des Worts, die die Ernsthaftigkeit unserer westlichen Gesellschaft garantiert; dass wir sagen, was wir meinen; dass wir nicht zynisch daherreden oder nur reden, um uns selbst reden zu hören.

Die Würde des Worts ist in den letzten 100 Jahren oft angegriffen worden. Moderne Ideologen haben sich nicht damit zufrieden gegeben, ihren Argumenten mittels Sprache Form zu geben, sondern haben versucht, die Sprache selbst zu beugen, ihre Überzeugungen in die Substanz der Sprache einzuschließen und diese Mixtur dann wie Beton aushärten zu lassen. Sie haben Sprache in ein gezinktes Kartenspiel verwandelt oder in einen bestochenen Richter, der die Verhandlung in nur eine Richtung vorantreibt.

Heute ist das Internet zu einer weiteren Bedrohung für die Integrität der Sprache geworden – eine Bedrohung, die vielleicht gefährlicher ist als intellektuell korrupte Politiker. Wir befinden uns mitten in einer gigantischen Umwälzung: Wir verfrachten alles Geschriebene – Dokumente, Briefe, Termine, Journalismus, Bücher – in die Cybersphäre. Das hat große Vorteile. Aber „altmodisches“ Wissen hat auch welche. Wir sollten einen Kompromiss mit der Cybersphäre anstreben, anstatt zu kapitulieren.

Eine Lawine, wenn sie erst einmal rollt, ist nicht zu stoppen. Aber wir können sie verlangsamen und umleiten. Schließlich gab es auch eine Zeit, ungefähr bis Mitte des 19. Jahrhunderts, in der alte Gebäude einfach zerstört wurden und aus der Mode gekommene Kunstwerke auf dem Müll landeten. Es gab eine Zeit, als Luft, Boden und Wasser wie selbstverständlich verschmutzt wurden. Das hat sich geändert. Heute sind wir alle Konservative und haben uns der Denkmalpflege, dem Bewahren von Kunstwerken und dem Schutz der Umwelt verschrieben. Genau so achtsam sollten wir mit der Sprache umgehen.

Die Pulsfrequenz der Cybersphäre und des virtuellen Worts strebt Richtung Kontrollverlust – das hat Konsequenzen für das klare Schreiben, das sorgsame Lesen und das rationale Verhalten. Der Cyberpuls, also die Häufigkeit, mit der wir auf neue Information stoßen, wird immer schneller. Vor 100 Jahren erreichte uns Information in handgeschriebenen Briefen, gedruckten Dokumenten, Zeitungen, Journalen, Büchern, Telegrammen. Zwei Generationen später erreichte sie uns auch über das Telefon, über Illustrierte, Radio und Fernsehen. Heute erreicht sie uns als Flut von E-Mails und Onlineinformation, in Blogs und auf Webseiten, für viele auch noch über SMS, die Mailbox und soziale Netzwerke.

Ein guter Tennisspieler muss am Netz schnell reagieren. Aber wenn wir ihn mit einer Ballmaschine beschießen, ist selbst der beste Spieler irgendwann überfordert. Im übertragenen Sinn geschieht genau das: Die Cybersphäre beschießt uns mit Informationen, ohne Rücksicht auf unsere Grenzen. Nicht alle Menschen halten indes einen außer Kontrolle geratenen Cyberpuls für etwas Schlechtes. Manche jungen Menschen halten digitale Kommunikation für das Leben selbst. Eine der großen Errungenschaften der Renaissance war die Befreiung des Menschen aus dem Gefängnis des Jetzt, aus einem Leben allein in der Gegenwart. Manche Menschen geben heute ihr Bestes, diesen Fortschritt ungeschehen zu machen. Sie leben ausschließlich im Jetzt und wissen nichts mit sich anzufangen, wenn der konstante Strom von neuen Informationen abreißt.

Das digitale Wort ist ein Wegwerfartikel

Die Veränderung unseres Zeitgefühls ist der vielleicht wichtigste Aspekt der digitalen Revolution. So, wie handgeschriebene Briefe und Bücher ein bedachtsames, gedankenvolles Lesen und Schreiben anregten, erzeugt die immer kleiner werdende Lücke zwischen Schreiben und Publizieren den Druck, immer mehr und schneller zu schreiben. Zugleich vergrößert die Flut von Texten den Druck, auch schnell und nicht mehr allzu sorgfältig zu lesen.

Es gibt noch eine weitere Gefahr für das, was ich den „existenziellen Status des Wortes“ nenne. Das digitale Wort, in Form von Bitcodes gespeichert, ist flüchtig. Es ist ein Wegwerfartikel, wie Pappbecher oder Plastikgabeln. Die praktischen Aspekte des Konkurrenzkampfs zwischen digitalem und realem Buch werden oft diskutiert. Aber wir reden zu wenig über die symbolische Bedeutung dieser Veränderung. Vielen fällt es schwer, ein Buch wegzuwerfen, selbst wenn sie es weder brauchen noch mögen. Die Bücherverbrennungen der Geschichte erinnern wir als Verbrechen gegen die Menschheit. Aber es fällt uns nicht schwer, digitale Zeichen mit ein paar Befehlen zu löschen.

Digitale Information ist Wegwerfinformation. Digitale Bücher sind Wegwerfbücher. Kürzlich hatte ich ein faszinierendes Erlebnis auf dem Times Square in New York. Auf einem großen Plakat wurde für eine Ausstellung der Qumran-Rollen geworben. 2100 Jahre alte hebräische Sätze standen direkt neben gigantischer Reklame für Broadway-Shows und iPhones. Jeder, der des Hebräischen mächtig ist (und davon gibt es in New York viele), konnte die alten, mit Tinte auf Pergament geschriebenen Worte lesen. Das geschriebene Wort ist seit mehr als 2000 Jahren ein verlässlicher Bedeutungsträger. Wird die digitale Welt die nächsten 2000 Jahre aufbewahren? Oft ist es ja schon schwer, einen alten PC zum Laufen zu bringen.

Eine Bibliothek ohne Bücher?
Eine Bibliothek ohne Bücher?

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Wie bewahren wir die Qualität des Lesens und Schreibens und die Würde des Wortes nun auf, in einer Zivilisation, die ihre Worte so unsagbar schnell in die Cybersphäre bewegt, kaum dass je ein zweiter Gedanke auf sie verwendet würde? Zum Teil geht es darum, was wir Kindern und Jugendlichen beibringen. Natürlich sagen die: Es dauert zu lange, Information in Büchern zu suchen. Ich muss das richtige Buch finden, den richtigen Teil des Buchs. Vielleicht muss ich sogar in eine Bücherei gehen, und wer weiß, vielleicht werde ich da von einem Wolf gefressen.

Aber wir wollen genau das: dass Kinder ihr Tempo drosseln und gut lesen. Bücher sind immer noch das beste Mittel, ihnen beizubringen, nicht bloß zu lesen, sondern es bedachtsam und gedankenvoll zu tun. Das physische Buch fügt dem geschriebenen Wort Gewicht, Substanz und Würde hinzu. Deshalb müssen wir einen Kompromiss zwischen echten und digitalen Büchern finden. Letztere sind unter bestimmten Umständen nützlich, etwa wenn man auf Reisen nicht zu schwer tragen möchte. Aber das physische Buch ist immer noch das beste Design der westlichen Geschichte. Nur die Tastatur und das Ziffernblatt kommen dem nah.

Was ist so brillant an Büchern? Schon Form und Größe sagen viel über ein Buch aus. Ein Kunstbuch braucht große Seiten, ein Gedichtband eher kleine, ein Reiseführer dünne. Man kann leicht in einem Buch blättern, wenn man etwas sucht. Man kann es am Strand oder auf einem Berg lesen und muss niemals Batterien aufladen. Man kann sich auf ein Buch stellen – und es kann trotzdem noch 2000 Jahre alt werden. Man kann Notizen auf seine Seiten schreiben, die an Wichtiges erinnern. Bücher sind schön – manche mehr als andere, und alle helfen, einen kalten, kargen Ort etwas wärmer erscheinen zu lassen.

Wie es aussieht, könnte der Erfolg der elektronischen Bücher reale Bücher bald zu raren Luxusgütern reduzieren – weil E-Books billig sind. Sie müssen nicht gedruckt, gebunden und ausgeliefert werden. Aber mit dem Rückgang der Kosten und der Beschleunigung von Produktion und Distribution ist auch der Niedergang des Schreibens und Verlegens verbunden. Man kann derzeit nicht sagen, ob Verleger eine Überlebenschance haben. Das ist nicht gut für die Klarheit und Qualität der Sprache sowie der Information. Auch nicht für die Würde des Worts.

Die Pfade vor Kunst und Technologie haben sich vor längerer Zeit gedrängt

Die Cybersphäre ist so voll von Wörtern, wie der Ozean voller Salz ist. Der Ozean ist salzig, die Cybersphäre ist „wortig“, ohne dass ein einzelnes Salzmolekül oder ein einzelner Satz von Bedeutung wären. Dennoch gibt es keinen Grund, warum wir nicht einen Friedensvertrag zwischen echten und virtuellen Büchern aushandeln sollten. Die zwei sollten aneinander gekoppelt werden. Das könnte bald so aussehen: Wenn man das Buch in die Nähe eines Computers oder Smartphones bewegt, erscheint der elektronische Text auf dem Bildschirm. Dort kann man ihn dann mit Computermitteln durchsuchen und seinen „Book Stream“ sehen: ein wachsendes Narrativ, ein zeitlich geordneter Strom von Kommentaren, vom Autor und anderen Lesern. Speziell für den Autor wäre das ein guter Ort, Extrawörter und Bilder zu posten, die es nicht in das gedruckte Buch geschafft haben. Für die Leser wäre der Ort gut, um über das Buch zu diskutieren – woran der Autor sich beteiligen kann. Oder man gelangt, indem man ein paar Zeilen markiert, zu Erklärungen und Kommentaren, die sich auf die betreffende Passage beziehen.

Der Cyberpuls unserer Kultur wird sich weiter beschleunigen. Aber wir können die Folgen dieses steigenden Pulses mit Hilfe von Software kontrollieren, so wie wir Sonnenbrillen an einem sonnigen Tag benutzen können. Etwa mit Tools, die das Tempo der Informationsrate zu Stoßzeiten verlangsamen und wieder beschleunigen, wenn man weniger zu tun hat.

Schreiben ist ein Handwerk, das in der modernen Gesellschaft noch etwas bedeutet. Ein Autor fügt ein Wort zum anderen und poliert das fertige Produkt. Auch heute kreieren die meisten Autoren ihre Essays und Geschichten auf die gleiche Weise, wie Steinmetze im 13. Jahrhundert eine gotische Fensterrose gemeißelt und poliert haben. Ihr Handwerk sollte überleben, das Rohmaterial – die Steine, die Sprache – sollte geschützt werden. Und als Leser sollten wir das Produkt der Schreiber so sorgsam behandeln, wie wir es auch bei anderen Objekten tun, die nach alter Sitte von Hand gefertigt sind.

Die Pfade von Technologie und Kunst haben sich schon vor langer Zeit getrennt. Heutige Ingenieure und Programmierer interessieren sich meist wenig für die Ästhetik dessen, was sie erschaffen. Deshalb sollten wir dafür sorgen, dass Kunst und Design nicht nur bei der Ausbildung von Technikern, sondern auch bei der Erziehung der Kinder eine größere Rolle spielen. Nur so kann sich die Welt und die Cybersphäre ein menschliches Maß bewahren, nur so können wir die Würde des Worts in die neue Zeit retten.

Übersetzt aus dem Englischen von Johannes Schneider.

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