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Gelb-rote Zeiten. Willy Brandt 1971 an seinem Schreibtisch in Bonn. Foto: picture alliance

© picture alliance / Heinrich Sand

Kultur: Kanzler der Herzen

Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt: Zwei Biografien von Hans-Joachim Noack und Torsten Körner.

Willy Brandt, dessen Geburtstag sich am 18. Dezember zum 100. Mal jähren wird, ist zweifellos einer der großen deutschen Regierungschefs gewesen. Mag ein jeder das Ranking an der Spitze – zumal dann, wenn er die gesamte Geschichte des deutschen Nationalstaats überschaut – persönlich unterschiedlich ordnen: Willy Brandt wird sozusagen der „Kanzler der Herzen“ bleiben, weil er jenseits des Politischen über eine emotionale Aura verfügte. Diese Größe des vor 21 Jahren Verstorbenen aber bedingt, dass über sein Leben schon oft und ausführlich geschrieben wurde, mehrmals auch von ihm selbst. Neues an politischen Tatsachen über ihn selbst dürfte schwerlich beizubringen sein, so dass die Biografik eigentlich nur durch eine konsequente und mit großem, wohl auch kritischem Abstand vollzogene Historisierung und frisch akzentuierende Bewertung Neuland betreten könnte.

Hans-Joachim Noack kann sich mit seinem Buch, das bei aller Bewunderung insgesamt nicht unkritisch verfährt, im Konvoi der längst abgelieferten Werke sehr gut sehen lassen – und es ist auch das, was der englische Freund „a very good read“ nennt. Doch, mit Verlaub, bei so großer zeitlicher Distanz erweisen sich auch sehr gute journalistische Annäherungen zuweilen als in ihrer Materie befangen. Ja, mitunter denkt man: Hier schreibt eine Generation auch ihre eigene Geschichte und sich selber fort.

Legen wir drei Tests an: Zum einen wäre es an der Zeit, das Verhältnis der Troika Brandt-Wehner-Schmidt nicht nur nach den Binnenspannungen zu befragen und dann am Ende doch recht klischeehaft auf den ewig frustrierten Wehner oder den immer ehrgeizigen Schmidt abzufahren. Nein, hinter diesen Spannungen standen nicht nur persönliche Animositäten, sondern auch gravierende konzeptionelle Unterschiede, die auch konzeptionell diskutiert werden müssten. Wehners Moskauer Bemerkungen über den Herrn, der gerne lau badet, waren eben auch erstens der bitteren Enttäuschung darüber geschuldet, dass Brandt nach dem Abschluss des Grundlagevertrages deutschlandpolitisch wie nach getaner Arbeit die Flügel hängen ließ, während Wehner zum Weitermachen drängte, um der Menschen im geteilten Land willen; und zweitens dem Bewusstsein, dass – wenn der Kanzler die Zügel so weiter durchhängen lassen würde – die nächste Wahl 1976 mit Pauken und Trompeten verloren gehen würde. Und trotz allem Erschrecken über den brutalen Warnschuss muss man doch zugeben: In beidem hatte Wehner sachlich recht. Auf die Sache mit Schmidt kommen wir gleich noch.

Sodann der Rücktritt: Der Spion, die Frauen und wer weiß noch was – das ist alles schon herauf und herunter erzählt worden. Aber das alles wären keine Rücktrittsgründe oder gar -vorwände geworden, hätten in Münstereifel nicht zur selben Zeit an zwei Wochenenden Treffen des Kanzlers mit der DGB-Spitze und den Chefs der Einzelgewerkschaften stattgefunden, in denen die Vertreter der Arbeiterschaft den SPD-Vorsitzenden äußert hart kritisierten, weil er in der Partei vieles zuließ, was die mühsam und über Jahrzehnte aufgebaute parlamentarische Macht der Arbeiterklasse (hier hört man fast schon wieder Wehner mit) aufrieb. Brandt musste sich nach dieser heftigen Kritik völlig isoliert und wohl auch aussichtslos fühlen.

Und schließlich: Wieso wird Brandt eigentlich wie selbstverständlich nachgesehen, dass er auf dem Bundesparteitag 1983 sich mit der übergroßen Mehrheit der Delegierten vom Stationierungsteil des Nato-Doppelbeschlusses fahnenflüchtig entfernte und den gestürzten Kanzler Schmidt im Regen stehen ließ. Heute wissen wir, dass Schmidts (und Kohls wie Genschers) Konsequenz eine der Voraussetzungen für den Abbruch des Wettrüstens und für die deutsche Wiedervereinigung mitgeschaffen hat. Brandt sprach noch 1984 von der „Lebenslüge“ der Wiedervereinigung – Wehner und Schmidt wäre ein solches Wort nie über die Lippen gekommen. Und mochte Brandt nach dem Fall der Mauer schnell, an seinem Enkel Lafontaine vorbei, aufs Tempo gedrückt haben, so hätte doch der große Irrtum des so gefeierten Ostpolitikers Brandt in den Jahren 1983 und 1984 ein recht kritisches Wort verdient.

Torsten Körners Buch hingegen will in einer anderen Liga spielen, ja er möchte sozusagen eine Alleinstellung erlangen, indem er nicht eigentlich die politische, sondern die Familiengeschichte Brandts, recht eigentlich die Geschichte der Familie Brandt schreibt. Das Buch ist sehr aufwendig recherchiert, auch in vielen Gesprächen (unter den Gesprächspartner fehlt aber auffallend gerade die dritte Ehefrau Brandts, Brigitte Seebacher-Brandt), und es ist in seiner Art sehr gewandt geschrieben, wenn auch ausufernd und bisweilen geschwätzig. Man muss das Genre mögen – ich tue es nicht, auch wenn es seine Leser finden sollte. Was sollen mir Mitteilungen über eine vormalige, am Alkoholismus zugrunde gegangene Nachbarin und die Mitteilungen ihres Sohnes, der es geschafft hat, trocken zu werden?

Körner sucht auch Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher auf. Seine reichlich selbstgefälligen Berichte zeigen nur, dass er – mangels politisch-substantiellen Interesses – mit ihnen kein relevantes Gespräch führen konnte, wohl auch, weil er sie nicht nach dem Politiker Brandt, sondern nur nach persönlichen Dingen befragte, von denen sie annahmen, dass sie weder sie selbst noch den Autor noch uns etwas angingen. Körner streift anlässlich des Besuchs durch Buchhandlungen, die voller Bücher von und über Helmut Schmidt stehen – und kann sich darüber nur albern mokieren. Dabei hätte diese Erfahrung ja auch zur Reflexion Anlass geben können, ob die Frage nach der Kanzlergröße heute etwas anders beantwortet werden müsste als früher – und ob das eigene Buch je das Gewicht oder die Auflage auch nur eines der Bücher seines kurzfristigen Gastgebers gewinnen könnte.

Hans-Joachim Noack: Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert. Rowohlt Berlin, Berlin 2013. 512 Seiten, 19,95 Euro.

Torsten Körner: Die Familie Willy Brandt. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 352 Seiten, 22,99 Euro.

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