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Kultur: Kartoffelkinder

Aus dem Heim in die Heimatlosigkeit: Georg Seidels „Carmen Kittel“ in der Box des DT.

Seit 1975 arbeitete der Dramatiker Georg Seidel am Deutschen Theater, anfangs als Beleuchter, dann in der Dramaturgie. Erst 1987 wurde er freischaffender Autor, seine Stücke – „Chlorophyll“, „Königskinder“ oder „Carmen Kittel“ – wurden gespielt. Ehrungen, Preise. Doch der Ruhm war kurz. Nach dem Ende der DDR, 1990, starb Seidel mit 45 an Krebs. Posthum bekam er 1991 den Mülheimer Theaterpreis, seitdem ist er so gut wie vergessen. Dabei gehen seine kargen, kraftvollen Stücke über Zustandsbeschreibungen aus der sich auflösenden DDR hinaus, aus der sie Handlung und Bitterkeit beziehen.

Seidel erzählt in einer poetischen Kunstsprache von Verlorenen, die zwischen Ich und Kollektiv zerrieben werden, beschreibt die Kluft zwischen Wunsch und gesellschaftlicher Wirklichkeit. „Was ist der eine dem anderen, Stützpunkt oder Marterpfahl“, heißt es in „Carmen Kittel“, das nach „Jochen Schanotta“ im letzten Jahr das zweite Stück ist, mit dem das DT zusammen mit Studenten der Schauspielschule Ernst Busch an Seidel erinnert.

Ein riesiger Kletterberg aus übereinandergestapelten Möbeln (Bühnenbild Christina Mrosek) erhebt sich in der kleinen Box. Die 18-jährige Kartoffelschälerin Carmen kommt aus dem Heim, aber die Einrichtung ihrer ersten Wohnung schafft keine Behaglichkeit, sondern bildet eine fest verschraubte Trutzburg, auf der Olivia Gräser ausdauernd herumkraxelt, ohne die Tür zum Leben zu finden. Als Carmen schwanger wird, zwingt sie ihr Freund zur Abtreibung.

Weil die Kolleginnen von der Kartoffelschälbrigade weiterhin glauben, sie sei schwanger, stiehlt sie, um die Erwartungen zu erfüllen, ein Kind und erstickt es schließlich, dem Wahnsinn nahe. Olivia Gräser gibt Carmen mit weit aufgerissenen Augen wie nicht von dieser Welt und zugleich mit dem Allerwertesten wackelnd: mehr überzeichnete Guignol-Anleihe als Schmerzensmädchen.

Männer tragen Frauenkleider, auch das meist weißliche Licht entrückt die Szenen ins schmerzhaft Grelle – aus dem die Seidel-Sätze umso klarer hervorstechen: „Das Meer unterdrückt bald sein eigenes Rauschen.“ Doch die Balance zwischen Einfühlung und Vorführung geht Regisseurin Cilli Drexel bald verloren. Je weiter die Schwangerschaftsvortäuschung voranschreitet, desto realistischer stolpert die Spielweise hinterher. Und aus dem sinnfälligen Möbelturm wird ein sperriges Hindernis. Äffchengleich über Holzfelsen springen oder am Schicksal verzweifeln: Beides zusammen geht zumindest an diesem Abend nicht auf. Andreas Schäfer

Wieder am 19.11.

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