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Ein Gefühl von Turbulenz. Blick auf den Kaiser-Wilhelm-Platz und die Hauptstraße.

©  Kai-Uwe Heinrich

Katharina Hacker über ihr Schöneberg: Diesseits und jenseits der Hauptstraße

Berlin, unvollkommene Stadt: Die Schriftstellerin Katharina Hacker spaziert durch Schöneberg, vom traurigsten Schuhladen der Welt zu urbanen Gärtchen.

Die Potsdamer Straße ist lange schäbig gewesen, jetzt wird sie weiter oben fein, Läden öffnen, Galerien, Restaurants, dazwischen noch der eine oder andere Spielsalon, die Joseph-Roth-Diele gibt es zum Glück, das Ave Maria und den libanesischen Laden Harb, einer meiner Lieblingsläden, der Gerüche wegen, weil sie die besten Oliven haben und hübsche Gläser und Seife.

Unten bei uns, wo die Potsdamer Straße zur Hauptstraße wird, gibt es nichts Besonderes. Eine Zeit lang im vormaligen Hertie der traurigste Schuhladen der Welt, in der Passage lungern die immerselben Gestalten, überhaupt Gestalten, wie unser Nachbar immer sagte, ich war auf der Hauptstraße, heute wieder nur Gestalten …

Früher gab es ein Elektrogeschäft an der Ecke Akazienstraße, in einem flachen, halbrunden Bau. Zwischen Staubsaugern und Wasserkochern standen ausgestopfte Tiere, ein Reh, ein Dachs war, glaube ich, auch dabei. Der Elektriker ist nach Schmargendorf gezogen, Starbucks musste wieder schließen, jetzt hält sich das Kochhaus dort. Öz-Gida, der türkische Supermarkt zwischen Haupt- und Belziger Straße, ist zum Glück geblieben.

Ein Allerlei an Häusern und Menschen

Es gibt diese Orte, die bloß zur Passage oder zum Gebrauch taugen, wenn sie auch ihre Geschichte haben in den Gebäuden und Steinen und Gesichtern. In Schöneberg heißt die Hauptstraße eben Hauptstraße und lässt den Himmel sehen, mit leichter Biegung, ansteigend und sich wieder senkend, ein Allerlei an Häusern und an Menschen.

Die Fassaden der großen Mietshäuser waren wohl prächtig, wie es um die Jahrhundertwende zum zwanzigsten sein musste, die Post imposant, früher stand dahinter eine Fabrik, vermutlich gleichzeitig noch mit Pferdeställen hinter den Häusern, vielleicht wegen der Pferdebahn, oder es gab überhaupt noch Vieh, Ställe, Remisen, Gartenhäuser, anderes Leben in Wörtern aufgespeichert, in den Fassaden, die vom Zweiten Weltkrieg verschont blieben, und ganz oben wollte ich wohl gerne in der Hauptstraße wohnen, hoch über der Straße mit Ampeln und Autolichtern, mit Lärm, der aber etwas gedämpft wird, und Passanten und Nachtschwärmern auch, seit der Havanna Club floriert, sodass am Wochenende sogar durch die Eisenacher Straße gegen drei oder vier Uhr müde Tänzer gehen, auf dem Weg zur U-Bahn.

Katharina Hacker, Jahrgang 1967, lebt seit 1996 in Berlin.
Katharina Hacker, Jahrgang 1967, lebt seit 1996 in Berlin.

© Promo

Die Straßen hier wischen sich ab, was Geschichte ist, das Dunkle wird im Gebrauch zur Spur von etwas, das nirgendwohin zu führen scheint, der Volksgerichtshof war um die Ecke, von welcher Seite wohl die Wagen mit den Gefangenen gefahren kamen, und wo stieg Freisler aus? In der Elßholzstraße oder von der Potsdamer Straße aus? Jetzt weiß man nicht recht, was man von der Grünanlage, ein Park ist es ja nicht, obwohl es früher einmal der Botanische Garten war, die Radrennbahn dann, halten soll, und ob es womöglich nachts gefährlich ist, weil Dealer herumstreifen, tagsüber sind da nur Kinder, Mütter, Hunde, immer Kaninchen, die Bäume sind groß, als wüssten sie noch was von den Gewächshäusern, dem verheerenden Unfall auf der Radrennbahn, der gleich nach der Eröffnung 1909 ihr Ende einläutete.

Es wäre, die Ecke Hauptstraße, Grunewaldstraße, eine zweite Ecke, an der ich gern wohnen wollte, in einem oberen Stockwerk wieder, wegen des Lärms, von dort oben aber doch gern über die Kreuzung und in alle Richtungen blickend, bis zum Gasometer hin, die kleine Anhöhe entlang zur Langenscheidtbrücke und Richtung Markt, dem Crelle-Markt.

Auf eigensinnige Weise aus der Zeit

Es gab immer Diesseits und Jenseits der Hauptstraße, auf der einen Akazienkiez und Kaffeeläden wie das Double Eye, auf der anderen Seite billigere Wohnungen, bis hin zur Roten Insel, dort wurde Marlene Dietrich geboren. Inzwischen hat sich die krude Unterteilung gemildert, und die Straßen um die Gustav-Müller-Straße wirken nicht mehr düster oder verstockt, sondern auf eigensinnige Weise aus der Zeit, und in dem kleinen Park an den Gleisen gibt es Nachtigallen.

Man kann nicht mehr über Berlin schreiben, ohne an Mieterhöhung und Gentrifizierung zu denken. Und doch geht es nicht darum, sondern um etwas, das viel schwerer greifbar ist und einen Eigensinn berührt, eine Hartnäckigkeit, einen hartnäckigen Wunsch. Vielleicht komme ich darauf wegen des Parkplatzes von Öz-Gida. Der Parkplatz hat eine Schranke, die Lieferwagen halten dort an einer Rampe vor den Kühlräumen, es gibt, auf dem weitläufigen Gelände, eine Kanzlei, Avucat sagt ein Schild, es gibt merkwürdige Holzgiebel, einen Schlot, einen eckigen Turm, das ist der dritte Ort, an dem ich wohnen wollte, in diesem Backsteinturm, ich weiß nicht, was das früher war. Auf dem Parkplatz wachsen Kastanien, in einer davon ist ein großes Baumhaus, vor allem aber ziehen die Besitzer oder Angestellte von Öz-Gida dort Gemüse, es ist ein winziger Nutzgarten, Kohlrabi, Tomaten, Kohlköpfe wachsen dort, im Laden werden sie nicht verkauft.

Schönheit ist schön, Schöneberg ist es nicht

Zwar nicht besonders charmant, aber immer was los. Die Hauptstraße in Berlin, Schöneberg.
Zwar nicht besonders charmant, aber immer was los. Die Hauptstraße in Berlin, Schöneberg.

© Kai-Uwe Heinrich

Gegenüber dem Parkplatz findet sich ein winziger Park abschüssigen Geländes, in dem meine Kinder Schlitten gefahren sind, ein Spielplatz darauf, davor Backsteinbauten, als wäre früher einmal etwas anderes dort gewesen, das eines würdigen Eingangs bedurft hätte, es wachsen Pflaumenbäume, eines Spätsommers traf ich zwei bärtige Männer mit Takke, die Pflaumen ernteten und mir gern welche herunterreichten.

Wir wechselten bloß ein paar Sätze, an einem Spätsommertag, und während man Pflaumenkerne über die Straße spuckt, muss man sich nicht verbrüdern und verschwistern.

Um den Kaiser-Wilhelm-Platz und die Kolonnenstraße hinauf kommt es mir manchmal turbulent vor, so, als wäre da immer noch eine Grenze zwischen Alt- und Neu-Schöneberg, der Platz heißt nach dem Denkmal, das es längst nicht mehr gibt, jetzt steht eine Mahntafel dort für die in den KZs Ermordeten, dann kommen den Hügel hinauf allerlei Geschäfte, ein Hörgeräte-Laden, den neulich ein Blinder suchte, Blumen-Laden, das Kino Xenon, Passanten eilen zur Julius-Leber- Brücke, an der Brücke ist ein Eisladen, ein Gemüsestand, darunter die neue Haltestelle zu Ehren des Widerstandskämpfers Leber, der sich in der Nähe vor den Nazis versteckte, bis er doch verraten wurde, darunter die Gleise voller Müll und Ratten und Kaninchen, die Strecke der S 1, auf den Potsdamer Platz zu, aber erst einmal unter der Langenscheidt-Brücke hindurch.

Avocados im Kilo neben Ständen mit Kitteln

Aufsichtsloses Grün an den Rändern der Gleise, Schöllkraut und Taubnesseln und Springkraut und später Goldrute, Gräser eh und Hopfen auch, vielerlei Gebüsch, Holunder dabei, und die halbe Straße, Häuser auf der einen, Gleisbett auf der anderen Seite, führt auf den Crelle-Markt zu. Kleiner Türkenmarkt, sagen die Leute, längst nicht so groß nämlich wie der am Maybachufer, allenfalls zweihundert Meter, zwei Gassen auf dem kleinen Dreieck, das drei Straßen bilden. Vielleicht sind es Reste, die so verramscht werden. Jedenfalls wird gerufen, Avocados gibt es im Kilo, ein paar Stände mit Kitteln, billigen Schuhen, Ärmlichkeit, Stress, und die Tischchen, auf denen auch etwas feilgeboten wird, ein paar gestrickte Babyschuhe, und überhaupt die Waren, LED-Lampen mit hebräischer Aufschrift und Kinderkleidchen in türkischen Verpackungen, aus aller Herren Länder, und wie die Händler sich verständigen, in einem Gemisch aus Deutsch und Türkisch vielleicht, und woher die Schuhverkäufer mit den Turbanen? Alles Männer jedenfalls. Die Kundschaft gemischt.

Schwer zu sagen, warum es mir hier gefällt. Schönheit ist schön, und Schöneberg ist es nicht.

Etwas bleibt für immer unvollkommen

Ein beunruhigter Transvestit schritt unlängst am vietnamesischen Edeka vorbei. Den Kopf gereckt, die Miene starr, nicht nur von Schminke. Zweimal sah ich vor Imbiss-Läden Blumen stehen, einmal war jemand erschossen worden, das andere Mal war es die Adresse, wo David Bowie wohnte, über einer Autowerkstatt, damals.

Stehen in der Strumpf-Boutique die Sommer-Beine im Schaufenster, weiß man, der Winter muss doch bald enden. Kommt ein neuer Sommer, kommen in die Straße vielleicht neue Läden statt der alten. Die Pflaumenbäume bleiben stehen und an Straßenrändern haben sich Leute kleine Gärten angelegt, und die frühere Dorfkirche steht auf ihrer Anhöhe über der Hauptstraße, das Leben wird nicht weniger. Was geschieht, sammelt sich an und geht über die Straßen hinweg, während es die Straßen imitiert, sich ihnen anähnelt, bis zur Unkenntlichkeit, bis zum Vergessen, es sind dieselben Straßen. Fenster spiegeln andere Fenster, und etwas bleibt für immer unvollkommen. Was für eine Erleichterung, wenn sie auch enttäuschend sein mag.

Von Katharina Hacker erschienen zuletzt bei S. Fischer ihr Roman „Skip“ und 2011 „Eine Dorfgeschichte“. Ihr Spaziergang durch Schöneberg erscheint Anfang September in der von Susanne Schüssler und Linus Guggenberger herausgegebenen Anthologie „Berlin – Eine literarische Einladung“ im Verlag Klaus Wagenbach (144 Seiten, 17 €).

Katharina Hacker

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