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Katrin Sass: Hälfte des Lebens

Katrin Sass bekommt den ersten "Paula"-Preis.

Andere stünden gewiss kurz vorm Nervenzusammenbruch. So soll sie einen Preis entgegennehmen, den nagelneuen Paula-Preis auf der Berlinale, vor aller Augen? Gesichtslähmung! Katrin Sass lächelt ein gewinnend asymmetrisches Lächeln: „Weihnachten hat das angefangen.“ Vielleicht hat sie zu viel gearbeitet. Ein Zehnteiler für die ARD und mittendrin ihr Lieder-Soloprogramm in der „Bar jeder Vernunft“.

Am 1. Januar entschied eine Freundin: Zum Arzt, sofort! „Also saß ich acht Stunden in der Charité unter all den Schnapsleichen vom Vortag“, konstatiert sie nüchtern mit halbem Mund. Andere hätte dieser Jahresbeginn nervös gemacht. Katrin Sass, die Frau, die in „Good bye, Lenin!“ das Ende der DDR verschlief, trägt bürstenkurze Haare zum bunten Strickpullover, sitzt im Chefbüro des Progress-Verleihs, der den neuen Preis gestiftet hat, und freut sich, dass sie die Erste ist, die ihn bekommt. Für ein Kino, das seine Wurzeln im Osten hat und dabei so eigenständig, so kompromisslos, so unbeirrbar ist wie die Titelfigur von Heiner Carows „Legende von Paul und Paula“. Oder eben wie die erste Preisträgerin. So viel Bettlägerigkeit wie in „Good bye, Lenin!“ täuscht.

Ihr Gesicht beginnt zu zucken, zumindest eine Hälfte. „Das ist Gymnastik, ich soll das machen“, sagt sie. Immer ruhig bleiben! Wie oft hat sie das schon gedacht. Etwa, als sie 1990 ihr Theaterengagement kündigte, um nun all die Rollen zu spielen, die man ihr anbieten würde. „Und wie ich auf den freien Markt wollte!“ Und dann stand sie da rum, sehr frei, sehr allein. Und machte, was alle machen, die nicht gebraucht werden: Sie ging aufs Arbeitsamt.

Aber dann kam sie doch, die erste Herausforderung. Die Frau, die auf der Berlinale 1982 den Silbernen Bären gewann, die Frau, die jeder kannte in der DDR, durfte vor laufender Kamera den Satz sagen: „Ich wohne nicht hier. Ich bin nur die Putzfrau!“ Vielleicht haben nur wenige Menschen so wenig Talent zum Selbstmitleid wie sie. Sie fand das neue Deutschland noch immer großartig, selbst mit einem Satz pro Film.

Nein, die „Paula“ ist nicht der erste Preis der Katrin Sass auf einer Berlinale.

1981. Sie war Anfang zwanzig und in Halle am Theater, als der Intendant die junge Kollegin zu sich rief und ihr mitteilte, dass ihr neuer Film „Bürgschaft für ein Jahr“ im Wettbewerb der Berlinale laufe. Er vernahm die nicht ganz kongeniale Rückfrage „Was, in Westberlin?“ und gab sich Mühe, den Unterton von Begeisterung zu überhören, der weniger dem Umstand galt, dass ihr Film von einem Weltklassefestival ausgesucht wurde, sondern mehr dem Ort, wo es stattfinden würde.

Auch Nina aus „Bürgschaft für ein Jahr“ war schon eine gute Paula-Nachfolgerin. Statt in der Flaschenrückgabe einer Kaufhalle zu stehen, wusch sie U-Bahnen mit der Hand. Herrmann Zschoches Film setzt in dem Augenblick ein, als die geschiedene Nina ihre drei Kinder, die in einem Heim leben, endgültig verlieren soll. Sie liebt sie, aber sie hat zu wenig Talent für den Alltag, für dieses Halb- tot-Sein bei lebendigem Leibe. „Und jeden Abend zwei Bier vorm Fernseher. Auf diesen leisen Tod scheiß‘ ich!“, ruft Katrin Sass nach fast dreißig Jahren Ninas Lebensbekenntnis durch das Büro des Progress-Geschäftsführers. Katrin Sass mag es noch immer. Nie hat sie eine Rolle so gewollt wie diese.

Dann stand sie in der Hälfte Berlins, in der es nie dunkel wurde und dachte: „Was für eine Verschwendung!“ Zum ersten Mal beim Hotelfrühstück und zum letzten Mal beim Schlafengehen. Sie genoss es. Verschwendung kann so schön sein.

Eine sozialistische Persönlichkeit war diese Nina nicht, und – auch das sagte der Film – würde nie eine werden. Der Mann im schwarzen Ledermantel, der an jedem dieser fernen Berlinale-Morgen die DDR- Delegation auf den Tag vorbereitete, allen fünf Westmark gab und ihnen dann unauffällig folgte, war bestimmt eine. Am letzten Tag sprach er viel von der unmittelbar bevorstehenden Abreise, verteilte die fünf Mark und sagte ganz zum Schluss, sehr beiläufig und ohne sie anzusehen: „Ach ja, und Katrin Sass bekommt heute den Silbernen Bären!“ – „Ich hätte den ohrfeigen können!“, hebt sie noch heute die Hand. Was macht aus Menschen solche personifizierten Selbstentfremdungen, die meinen, für eine Idee zu stehen, für eine „Sache“, wie sie sagen, und dabei nicht einmal für sich selbst stehen können?

Wie großartig fand sie dagegen jenen Verkäufer, dem sie ihr in fünf Tagen gespartes Westgeld auf den Tisch legte, 25 DM, und sprach: „Diese Jacke bitte!“ – „Die kostet aber 30“, sagte er, hörte das „Nein, dann nicht!“ seiner Kundin, las die große Enttäuschung in ihrem Gesicht und fragte: „Moment mal, sind Sie nicht die Preisträgerin?“ Sie bekam die Jacke für 25.

Die Bären-Gewinnerin kehrte zurück nach Dunkeldeutschland. Eine kurze Notiz im „Neuen Deutschland“, sonst nichts. Keine Rolle mehr, zwei Jahre lang. War das der Preis des Preises?

Millionen sahen Katrin Sass in ihrer ersten Filmrolle 1978: „Bis dass der Tod Euch scheidet“ von Heiner Carow. Viel Zufall war dabei, denn zuerst war eine andere besetzt, und dann hat Carow sie verwechselt und immer so weiter. Leben heißt Verwechseltwerden und dabei – zumindest für sich – unverwechselbar bleiben. Katrin Sass hat es nie vergessen.

„Ich wohne nicht hier. Ich bin nur die Putzfrau!“ – Katrin Sass’ erster Filmsatz nach der Wende

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