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Kultur: Kein Land für junge Männer

Verloren, verraten, verrottet: Philipp Meyers Debütroman „Rost“

Amerika verrottet von innen. Oder sollte man besser sagen: Amerika verrostet? Doch es ist nicht nur der Rost, der sich über alles legt; es ist eine Mischung aus Lähmung und Lethargie, Hoffnungs- und Trostlosigkeit, plötzlich ausbrechender Gewalt und Gefühlskälte. Hinzu kommen der Dreck, der Gestank, die Fäulnis. Eine Welt, die im Sterben liegt und sich selbst dabei zusieht. Buell heißt der Ort, irgendwo in der verrottenden Stahlregion rund um Pittsburgh. Das Stahlwerk hat vor mehr als 20 Jahren dichtgemacht; nun ist es zum Teil abgerissen, zum Teil einfach aufgegeben; ein bizarres Ruinenfeld, das die geschundene Natur sich zurückerobert.

Für die Bewohner von Buell war die Schließung des Stahlwerkes ein existenzielles Ereignis. Grace, die in Buell hängen geblieben ist, erinnert sich noch, „dass die Luft, wenn sie aus der Schule nach Hause kam, so voll Ruß hing, dass die Scheinwerfer der Autos eingeschaltet waren und die Straßenlaternen genauso, und das mittags. Manchmal konnte man unmöglich Wäsche draußen aufhängen, so dreckig kam sie nachher von der Leine runter“. Das waren die guten, schmutzigen Zeiten von Buell. Soll heißen: Die Menschen hatten Arbeit. Wenn heute noch einer Arbeit hat, besteht sie darin, die alten Fabriken niederzureißen. Danach kommt nichts mehr. Woanders hingehen kommt auch nicht infrage – man hat nichts gelernt und kann also nichts.

In dieses geradezu urzeitliche Szenario ist Philipp Meyers Romanerstling „Rost“ eingebettet. „American Rust“, so der Originaltitel, wurde mit mehreren Debütpreisen bedacht; der „New Yorker“ kürte Meyer zu einem der wichtigsten 20 Schriftsteller unter 40 Jahren, und selbstverständlich blieben die Vergleiche mit den üblichen Verdächtigen nicht aus, mit Faulkner, Salinger, Cormac McCarthy. Blendet man all das bei der Lektüre aus (was problemlos geht), bleibt die Gewissheit, dass „Rost“ ein packender, hin und wieder etwas überinstrumentierter, aber insgesamt staunenswerter Roman ist.

Billy Poe ist Graces Sohn und lebt mit seiner Mutter in einem Trailer, klassischer White Trash also. Isaac Englishs Mutter hat sich vor Jahren im Fluss ertränkt; der Vater hat seinen Körper im wahrsten Sinne des Wortes dem Stahl geopfert und sitzt im Rollstuhl; die Schwester ist die Einzige, die es geschafft hat, aus Buell zu verschwinden: Studium in Yale, reiche Heirat. Dabei ist Isaac der Intelligentere von beiden. Billy, groß, stark und mit einem Hang zur Gewalt, und Isaac, klein, gerade einmal 50 Kilo schwer, beide zwanzig Jahre alt und aus unerfindlichen Gründen eng miteinander befreundet, geraten in eine brenzlige Situation.

In einem Anfall von plötzlicher Kraft bringt Isaac einen Landstreicher um; der tumbe Billy gerät unter Mordverdacht und wird ausgerechnet von Chief Harris, dem Liebhaber seiner Mutter, verhaftet, während Isaac sich mit geklauten 4000 Dollar in der Tasche auf den Weg in Richtung Kalifornien macht.

The road is long and the road is hard. Isaac und Bill sind Kinder der Krise, und darum, so will es der Roman, ist ihr Weg vorgezeichnet. Mit geradezu erschreckendem Fatalismus bewegen sich all diese Figuren durch eine triste Welt. Es scheint, als folge alles einer höheren Bestimmung: Die von dem schmächtigen Isaac geworfene Eisenkugel, die das Gesicht eines Mannes zerschmettert, nimmt ebenso ihren vorgezeichneten Lauf wie Billys Lebensweg, der im Gefängnis endet; an dem Ort, wie Billy selbst sagt, der auf ihn gewartet hat. In seinen ständig wechselnden Erzählstimmen verknüpft „Rost“ eine überzeitliche, mystische, ja geradezu biblische Überhöhung von Einzelschicksalen und Schuldfragen mit den ganz konkreten Erwägungen politischer Verantwortung: „Wir sind“, sagt der herzzerreißend einsame Chief Harris, „als Land auf einem absteigenden Ast, vielleicht zum ersten Mal in unserer Geschichte, und das liegt nicht an den Kids mit grünen Haaren und mit Piercings in der Nase.“

Isaac versucht aus dieser Aneinanderreihung von verpassten Chancen und verpatzten Lebensentwürfen auszubrechen. Seine Fluchtkapitel bilden eine Abfolge von rasenden inneren Monologen, in deren Mischung aus naturphilosophischer und naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung Meyer die Zurschaustellung seiner Kunstfertigkeit hin und wieder übertreibt. Doch auch Isaac, so viel darf verraten werden, landet am Ende wieder dort, wo er aufgebrochen ist: In einem Land des äußeren und inneren Verfalls; in einem Land, in dem Unglück immer nur selbst verschuldet ist. Von diesem Land erzählt „Rost“ mit Verve.

Philipp Meyer: Rost. Roman. Aus dem amerikanischen

Englisch von Frank Heibert. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010. 464 Seiten, 22,95 €.

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