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Kultur: Kein schöner Zug

Karlheinz Geissler hält dem Bahnchef eine Sonntagspredigt Deutschland, das Volk der Dichter und Denker – denkste! Die Bahn AG lässt uns wieder mal zweifeln.

Karlheinz Geissler hält dem Bahnchef eine Sonntagspredigt

Deutschland, das Volk der Dichter und Denker – denkste! Die Bahn AG lässt uns wieder mal zweifeln. Helden der Kultur und Wissenschaften waren es bisher, die als Hochgeschwindigkeitszüge durch die Republik und manchmal auch darüber hinausführten. Mit Goethe nach Paris, mit Max Planck nach München und Hamburg, mit Franz Kafka nach Prag und mit Hoffmann von Fallersleben werweißwohin. Da trafen sich Hildegard von Bingen und Georg Philipp Telemann in Frankfurt zu einem sechsminütigen Rendezvous, das die Gebrüder Grimm aus fahrplantechnischen Gründen verpassten. Sie kamen immer zu spät. Mancherlei Mysterien der deutschen Kulturgeschichte nahmen auf deutschen Bahnhöfen ihren Anfang. „Wie sind Sie nach Frankreich gekommen?“ „Gerade eben mit Goethe.“ Und wer im Speisewagen des Intercity „Bacchus“ seinen zweiten Wein bestellte, war aller selbstquälerischen Skrupel enthoben.

Vorbei. Dieser Zug ist endgültig abgefahren. Die Bahn benennt ihre ICEZüge künftig nach Fahrzielen und Stationen. Den Anfang machte jetzt Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, der einen ICE auf den Namen der Hauptstadt „taufte“ – wobei wir nicht wissen, ob eine Flasche Champagner (oder nur Rotkäppchen) für eine Delle im „Berlin“-Bug sorgte. Mit dem Fahrplanwechsel ab 15. Dezember, so kündigt Bahnchef Mehdorn an, will die Bahn nun ganz grundsätzlich ihre „Verbundenheit mit deutschen Städten“ zum Ausdruck bringen.

Na schön. Aber wo, Herr Mehdorn, bleibt die Verbundenheit mit der deutschen Kultur? Womöglich wird Deutschland in der nächsten Pisa-Studie noch weiter abrutschen. Bisher haben viele Landsleute wenigstens aus den Zug-Faltblättern erfahren, dass Max Planck „ein deutscher Physiker“ war, „der als Begründer der Quantenphysik sowie des Planckschen Strahlungsgesetzes maßgeblich zur Gestaltung der modernen Physik beitrug und 1918 den Nobelpreis erhielt“.

Die Trivialität, Züge nur nach jenen Orten zu benennen, zwischen denen sie hin- und herfahren, ist nichts mehr als das Eingeständnis, dass bei der Bahn, ähnlich wie beim Flugzeig, der Transport die Reise abgelöst hat. Wem gefällt das? Einzig vielleicht Gabriele Münter, die immer die Lautsprecherdurchsage ertragen musste, sie verkehre zwischen Stuttgart und München. Schneller, schöner, pünktlicher aber machen die neuen Bahnnamen das Bahnfahren nicht. Und leichter auch nicht. Dafür sorgt ja das neue Tarifsystem, das in einer immer kurzfristiger operierenden Gesellschaft die frühzeitige Festlegung auf notorisch zu spät kommende Züge verlangt.

Der im Zeitalter der globalen Mobilität zu immer neuer Beweglichkeit aufgerufene Mensch wird so zur neuen Unflexibilität gezwungen, ja: im Zeichen der bahnmonopolistischen Marktwirtschaft zur Termin-Planwirtschaft angehalten. Und keine Roswitha und Hildegard, kein Bacchus und kein Brecht trösten ihn mehr. Er sitzt künftig in „Berlin“ oder „Frankfurt“, selbst wenn er gerade fort will von diesem oder jenem Ort. Immer nur Stadt-Bahn, auch über Land.

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