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Kultur: Keine Normalität, nirgends - Heinrich August Winkler über Deutsche, Demokratie und Nation

Der Westen ist Deutschlands Tod: Die Rettung erfordert, sich loszulösen von allem, was aus dem Westen kommt und was westlich ist." Bislang galten solche kernigen Bekenntnisse wie jene des nationalbolschewistischen Literaten Ernst Niekisch als Beleg eines deutschen Sonderwegsdenkens.

Der Westen ist Deutschlands Tod: Die Rettung erfordert, sich loszulösen von allem, was aus dem Westen kommt und was westlich ist." Bislang galten solche kernigen Bekenntnisse wie jene des nationalbolschewistischen Literaten Ernst Niekisch als Beleg eines deutschen Sonderwegsdenkens. Doch die Historikerzunft bestreitet längst die zum Allgemeinplatz gewordene These einer langlebigen deutschen Dissidenz gegenüber dem Westen. Heinrich-August Winkler konstatiert im ersten Teil seines Werkes über die deutsche Geschichte, "einen Normalweg sei ohnehin kein Land dieser Welt gegangen". Doch konservative Geschichtsrelativierer kommen bei dem Berliner Historiker nicht auf ihre Kosten. In seinem ersten Band legt Winkler eine "Problemgeschichte" vor, in deren Mittelpunkt das Verhältnis zwischen Demokratie und Nation steht.

Zu Beginn des frühen Mittelalters steht die Auseinandersetzung zwischen geistlicher und weltlicher Macht. Ohne Prüfung des Papstes konnte ein deutscher König allenfalls Herrscher über sein Volk, nicht jedoch Römischer Kaiser sein. Der Sieg der Fürsten in der Krise des hochmittelalterlichen Reiches basierte auf der Devise "Das geistliche Schwert von der Kirche, das weltliche Schwert für die Kirche". Doch die Entfremdung von Rom steigerte sich im 15. Jahrhundert zu einer Frühform des deutschen Nationalbewusstseins, Nation stieg "zum allgemeinen Mittel der politischen Welteinteilung" auf.

Winkler zeichnet den Weg nach vom "Reichspatriotismus" über die "Kulturnation" bis hin zum territorialstaatlichen Bezug von Begriffen wie Vaterland und Nation. Beim kriegerisch ausgetragenen Gegensatz zwischen katholischen Habsburgern und evangelischen Hohenzollern galt das militärische Preußen nicht als "ein Land, das eine Armee hat, sondern eine Armee, die Land hat".

Deutsche Verfassungspatrioten

Das revolutionäre Frankreich verwirrte das gebildete Deutschland mit seiner Parole von der "einen und unteilbaren Nation". Doch dem Nationalismus als politischen Glauben hält Wieland einen ersten deutschen Verfassungspatriotismus entgegen: Deutscher Patriotismus könne nichts anderes sein, "als Liebe der gegenwärtigen Verfassung des gemeinsamen Wesens".

Friedrich Gentz dagegen meint mit "vaterländischem Geist" eine deutsche Nationalgesinnung und keinen einzelstaatlichen Patriotismus mehr. Er formuliert damit jenen Übergang, der weg vom "reichspatriotischen" oder "kulturnationalen" Denken führt, ehe Fichte die Deutschen zum "Urvolk" und das Deutsche zur "Ursprache" überhöht. Der Mangel an deutscher Staatlichkeit durch die Demütigung Napoleons mündet in einen "kompensatorischen Nationalismus", dessen klassische Vertreter wie Turnvater Jahn oder der "Franzosenhasser" Ernst-Moritz Arndt in der Tradition eines kämpferischen Kulturprotestantismus stehen.

Auf dem Hambacher Fest 1832 wird Schwarz-Rot-Gold endlich zum Symbol der freiheitlichen deutschen Einheitsbewegung. Doch der Liberalismus ist "überfordert", wie Winkler es vorsichtig formuliert. Die Vormärz-Parole "Freiheit vor Einheit" hat nur wenig Chancen. Im Oktober 1848 stimmt die große Mehrheit der deutschen Nationalversammlung der "großdeutschen" Lösung, einer Nationalstaatsgründung unter Einschluss Österreichs, zu.

Winkler macht deutlich, dass die These, von der rundum gescheiterten Revolution von 1848 zu kurz greift: "Gescheitert ist die Revolution, gemessen an ihrem Doppelziel: der Freiheit und Einheit Deutschlands." Zwischen Düppel und Königgrätz wird um die Einheit vor der Freiheit gekämpft. Der deutsche Krieg von 1866 war kein Bürgerkrieg von Freischärlern und Barrikadenkämpfern. In Sedan 1870 feiert das protestantische Deutschland eine "weltgeschichtliche Wende". Aus der Kulturnation entwickelt sich eine kleindeutsche Staatsnation.

Torschlusspanik einer Verklemmten

Die "Ideen von 1914" bedeuten eine kategorische Absage an die Werte des Westens - an Liberalismus und Individualismus, an Demokratie und allgemeine Menschenrechte. In der kriegerischen Koalition aus Potsdam und Weimar tobt eine verklemmte Nation ihre Torschlusspanik aus. Friedrich Eberts Weimar ohne Potsdam versucht national zusammen zu fügen, was demokratisch nicht zu kitten war. Der frühe Hitler bezeichnet die Nationalsozialisten als "Rachearmee des Vaterlandes."

Nach Winklers Ansicht haben die Deutschen mit der Machtergreifung Hitlers nicht nur die kriselnde Demokratie als Resultat der Novemberrevolution abgelehnt, sondern mehr noch: Auch den kleindeutschen Nationalstaat Bismarcks von 1871 habe man nicht mehr gewollt. Er zitiert Hitler aus dem Jahre 1941: 1933 sei "nichts anderes als die Erneuerung eines tausendjährigen Zustandes (... ). Man spricht von Deutschland überall nur als vom Reich." Die Reichsidee "war die Erinnerung an die Größe des deutschen Mittelalters und an die Aufgabe, die Deutschland damals für das ganze christliche Abendland übernommen hatte".Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Band 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. C.H. Beck Verlag, München 2000. Seiten. 78 DM.

Norbert Seitz

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