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Souldiva mit Big Hair: Kelis Rogers versucht mit 34 einen Neuanfang.

© Estevan Oriol

Kelis veröffentlicht neues Album "Food": Mit Leib und Seele

Sie galt als kommender Superstar von R'n'B und Neosoul. Doch dann verlor Kelis ihren Plattenvertrag mit einem Major-Label. Jetzt erfindet sie sich mit einem Konzeptalbum übers Essen neu.

Von Jörg Wunder

So möchte man auch mal arbeiten. Für die Aufnahmen zu ihrem sechsten Album verabredet sich Kelis meistens locker mit ihrem neuen Produzenten Dave Sitek in dessen Haus in Los Angeles. Kühlschrank und Speisekammer sind gut gefüllt, Musizieren macht schließlich Appetit. Die gelernte Köchin Kelis schnippelt Gemüse und summt eine Melodie, Sitek klimpert auf dem Klavier dazu, nach und nach trudeln weitere Musiker aus Siteks Bekanntenkreis ein – als Gitarrist der Art-Rock-Band TV On The Radio und als Produzent von Acts wie Yeah Yeah Yeahs oder Santigold ist der Mann bestens vernetzt. Man sitzt rum und jammt, überlegt sich vielleicht ein fesches Bläserarrangement oder ein raffiniertes Gitarrenlick, aus der Küche duftet es nach Gebratenem, irgendwann wird gemeinsam geschlemmt, und wenn alles gut läuft, ist am Ende des Tages ein neuer Song im Rohbau fertig. Kein Wunder, dass die Platte „Food“ (Ninja Tune) heißt und eine Art Konzeptalbum zum Thema „gutes Essen“ (im Sinne von: hält Leib und Seele zusammen, selbst wenn alles andere den Bach runtergeht) geworden ist.

Was nach einer prima Art klingt, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist in Wirklichkeit die Freiheit nach dem Scheitern. Im Prinzip müsste Kelis Rogers, Jahrgang 1979, auf einer Popularitätsstufe mit der zwei Jahre jüngeren Beyoncé stehen. Kelis besitzt, als 1999 ihr Debüt „Kaleidoscope“ erscheint, Talent im Überfluss, sie hat mit ihrem bunten Afro einen einprägsamen Look und kennt die richtigen Leute. Die noch am Anfang ihrer phänomenalen Laufbahn stehenden Neptunes (Pharrell Williams und Chad Hugo) schneidern ihr aufregende Beats, die Platte wirft sogar einen Hit ab.

Schon mit Album Nummer zwei kommt Kelis' Karriere ins Stocken

Sieht alles nach dem nächsten Superstar aus, aber schon mit Album Nummer zwei kommt alles ins Stocken: Ihre Plattenfirma findet das Werk so misslungen, dass sie es nicht auf dem US-Markt veröffentlicht – ein Desaster für eine Karriere im Werden. In den Nullerjahren geht es mal aufwärts (das 2003er Album „Tasty“ mit dem Hit „Milkshake“ wird ihr bestverkauftes), mal abwärts, aber die kommerzielle Kernschmelze steht noch bevor: Mit „Flesh Tone“ erfindet sich Kelis 2010 als eisgekühlte Discodiva mit afrofuturistischem Überbau neu. Die Platte, ein von Dancefloorspezialisten wie David Guetta und Will.i.am produziertes Meisterwerk, das mit den besten Arbeiten von Madonna mithalten kann, verkauft sich in der Startwoche in den USA knapp 8000 Mal. Damit ist Kelis’ unglückliche Liaison mit den Majorlabels beendet.

Deren Unfähigkeit, eine schwer berechenbare Künstlerin zu vermarkten, kommt der Londoner Plattenschmiede Ninja Tune zugute. Die Carte Blanche nutzt Kelis für einen entspannten Neustart. Sie denkt gar nicht daran, an eines der gängigen Erfolgsmodelle für weibliche Solokünstlerinnen anzudocken: Auf „Food“ gibt es keinen übersexualisierten R’n’B wie bei Shakira oder Rihanna, keinen Retrosoul im Post-Amy-Sound und auch kein Folkgesäusel wie bei süßen Skandinavierinnen. Kelis präsentiert sich als erwachsene, mitten im Leben stehende Frau, die ihre Niederlagen nicht verleugnet, aus ihnen aber eine neue Kraft schöpft. Diese Kraft, diese Gereiftheit schlägt sich auch in ihrem Gesang nieder. Kelis’ Stimme hatte nie den honigzarten Schmelz von Beyoncé, aber so rau und zerschrammt klang sie bisher nicht.

Kelis erweitert mit "Food" zeitgenössische Soulentwürfe

Suggestiv wird Kelis’ schmirgeliges Organ mit engelsgleichen Backgroundvocals kontrastiert, etwa im von Handclaps strukturierten „Cobbler“ (benannt nach einem traditionellen Südstaatendessert), bei dem sich Kelis und ihre Girls in einen kristallinen Diskant emporschrauben. Oft wird Kelis’ Gesang auf elastische Hängemattengrooves mit geschmeidigen Bläsersätzen und flirrender Hammondorgel gebettet. Müsste man ein Genre für Dave Siteks eigenwillige Sounds benennen, würde man schon bei „Soul“ landen.

Aber es ist ein schwierig zu verortender, zwischen Jahrzehnten und Hautfarben changierender Soul, der nach Michael Jacksons „Bad“-Phase („Jerk Ribs“), den mittleren Stones („Fish Fry“), Siebziger-L.-A.-Funk („Hooch“) und in der dramatischen Abschlussballade „Dreamer“ sogar nach den Walker Brothers klingt. Kelis erdet den Ideenstrom des begnadeten Eklektikers Dave Sitek, nicht nur durch die Unmittelbarkeit ihrer Stimme, sondern auch durch die allegorische Vielschichtigkeit der Texte. „Food“ erweitert die Vielfalt zeitgenössischer Soulentwürfe um eine gelungene Variation. Und es wäre nicht mal schlimm, wenn das keiner hören will: Kelis’ Ex-Ehemann, der Rapper Nas, zahlt für den gemeinsamen Sohn Knight Unterhalt in vierstelliger Dollarhöhe. Da spielen Plattenverkäufe keine große Rolle mehr.

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