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Kultur: Kinder aller Länder, vereinigt euch!

Ein 50-Jähriger spielt einen kleinen Jungen aus Pinienholz, im teuersten italienischen Film aller Zeiten: Roberto Benignis „Pinocchio“

Die Italiener lieben diesen Film. Schon zehn Millionen wollten ihn sehen. Nun ist „Pinocchio“ eine Geschichte, die zu ihnen gehört wie sonst nur Venedig oder Puccini. Und Roberto Benigni ist der Mann, den die meisten Italiener irrtümlich lustig finden. Muss uns das irritieren? Die Italiener halten schließlich auch ihr Fernsehen aus, und immer wenn wir wiederkommen, um nach den Italienern zu sehen, merken wir: Es hat ihnen wieder nichts anhaben können.

Warum also sollten wir die Filme, die andere sehr mögen, schlecht finden? Das ist stillos. Aber nun kommt „Pinocchio“ zu uns. Selten startet ein Kinderfilm mit soviel allgemeiner Beachtung. Ganz selten wurde ein Kinderfilm mit solchem Aufwand gedreht. „Pinocchio“ ist der teuerste italienische Film aller Zeiten. 47 Millionen Euro.

Es muss also sein. Kinder aller Länder, vereinigt euch! Da hat also der Italiener Carlo Collodi vor über 100 Jahren eine repressive Erziehungsutopie aufgeschrieben. Sie enthält die Unterstellung, dass Kinder, bevor sie fertig erzogen sind, im Grunde Holzpuppen sind. Sie will uns sagen, dass man es uns ansieht, wenn wir lügen. Sie will uns gleichsam einen seelischen Lügendetektor einpflanzen. Dabei weiß jedes Kind, dass die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens die Lüge ist. Ohne die Lüge würde die Welt keinen Tag lang existieren. Mit der Lüge verschonen die Menschen einander. Vielleicht hat sich Collodi aus der Toskana auch nur einer besonders sublimen Kant-Widerlegung gewidmet. Der Mensch sei aus so krummem Holze (Pinienstämme!) geschnitzt, dass niemals etwas Gerades daraus werden könne, hatte der Königberger gesagt. Das ist eine tiefe anthropologische Einsicht. Collodi hätte sie stehen lassen können.

Allerdings liest er sich viel unterhaltsamer, viel märchenhafter als Kant. Das entschuldigt ihn. Auch wenn er uns die anachronistische Botschaft überbringen will, dass Kinder, die den ganzen Tag nur tun, was ihnen gefällt – wie es Pippi Langstrumpf längst gefordert hat – , Esel sind, die von bösen Kaufleuten in die Zwangsarbeit verkauft werden. All das verfilmt Benigni eins zu eins. Müssen wir Kinder und alle, die wir mal welche waren, uns das eigentlich gefallen lassen?

Das teutonische Gegenstück zu „Pinocchio“ ist der Struwelpeter, grob direkt und ohne jegliche südliche Anmut und Poesie. Wenn man dann noch an das elende Schicksal des Suppenkaspers denkt, begreift man, was für eine wunderbar poetische, erlösungsbedürftige Figur diese Holzpuppe ist. Man muss sie nur aus der Diktatur ihrer Geschichte befreien. Das war Roberto Benignis Verantwortung. Darin liegt nun seine Schuld.

Roberto Benigni formuliert sein Alibi für Kritiklosigkeit so: Nicht ich habe Pinocchio erwählt, sondern Pinocchio mich! Pinocchio aber hat Benigni nicht nur als Hauptdarsteller, sondern auch als Regisseur erwählt. Außerdem hat die Holzpuppe auch noch ihr Verhältnis zum Geld auf Benigni übertragen. Anstatt für die Taler Schulbücher zu kaufen, gibt Pinocchio sie weg für den nächstliegenden Tand, das nächstliegende Glitzertheater. Auch Begnigni lässt seine Frau und Produzentin Nicoletta Braschi als gute Fee in einer Kutsche vorfahren, gezogen von Hunderten Mäusen. Hübsch ist das schon. Aber diese Fee muss doch mehr sein als ein kandiertes Lächeln im Kleid. Sie hätte Pinocchios innere Stimme, seine Puppen-Seele sein sollen. Aber da ist nichts.

Benigni hat alles ausgemalt: das Feuerfresser-Theater, das Feenschloss, den Wal. Nur die Animation der Holzpuppe kostete kein Geld. Roberto Benigni spielt Pinocchio selbst. Ein Fünfzigjähriger wird ein kleiner Junge aus Pinienholz. Eine zarte Idee, aber gerade darin liegt das größte Missverständnis von „Pinocchio“. Und Benignis größtes Selbstmissverständnis. Ist ein Komiker jemand, der sich das Kind im Manne bewahrt hat? Einer, der wie Max Reinhardt sagte, sich seine Kindheit in die Tasche gesteckt und sich mit ihr auf und davon gemacht hat? Mag sein, kein Künstler kommt aus ohne das Kind, das er einmal war. Aber das wäre das Gegenteil von Klamauk, von Infantilität, von Roberto Benigni. Holzpuppen der Erde, dieser Pinocchio da ist keiner von euch!

Roberto Benigni hat in Jim Jarmuschs „Night on Earth“ und in „Down by Law“ gespielt. Er hat ihnen nichts anhaben können. Später machte er einen wirklich großen Film, „Das Leben ist schön“. Groß, weil wohl kein anderer so unbefangen Komödie gespielt hätte vor dem Hintergrund der Konzentrationslager. Und weil der übergroße Ernst hier schon vor Benigni da war. Jeder wirkliche Humor ist durchsichtig bis auf den Ernst auf seinem Grunde. Roberto Benigni ist nur Roberto Benigni. Ein Männchen mit einer Nase.

Ab Donnerstag in 15 Berliner Kinozentren; OV im Cinestar Sony Center

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