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Kultur: Kinder des Mittelalters

Arena für Orff: das neue Education-Projekt der Berliner Philharmoniker

Es ist spektakulär. Tausende von Menschen versammeln sich am Samstag in der Arena Treptow für Carl Orffs „Carmina burana“: Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker und Gesangssolisten und der Rundfunkchor Berlin; über 450 Schüler aus elf Berliner Schulen und Senioren und Amateurtänzer; im Hintergrund ein Team von Professionellen mit dem britischen Choreografen Royston Maldoom an der Spitze; nicht zu sprechen von den sechzig Auszubildenden des Oberstufenzentrums für Bekleidung und Mode, die die Kostüme für die Tanzeinlagen gefertigt haben. Und ihnen allen gegenüber, im dunklen, überhitzten Saal der Arena, sitzt ein zweites Menschenheer aus Großeltern, Eltern, Geschwistern und Freunden der meist jugendlichen Mitwirkenden.

Ein Giga-Projekt. Die ganze Stadt macht mit und hört und schaut mit großen Augen zu: Wie Maldoom die in Erdfarben gekleideten Tänzer als Elende, Geschlagene auftreten lässt, die sich mühsam durchs Leben winden. Wie er den Tod auf die Bühne schickt, mit blutroter Fahne die Massen niedermähend, rechtsherum, linksherum. Wie er dann die Geschlechter inszeniert, sich aufbauende Jünglinge, zickende Mädchen. Wie er dann einige Köche ein halbnacktes Knäblein auftragen lässt: Orffs gebratenes Schwänchen, das immer wieder zitternd die Glieder reckt. Um am Ende, bei der Wiederholung des Eingangschores, den Tod auflaufen zu lassen. Nicht mit uns, sagt die Menschenmasse nun, stellt sich von neuem in einem der vielen Großtableaus auf und reckt die Hände. No more.

Nicht, dass die urtümlichen Gefühle, dieses Auffahren von Masse und Macht, den „Carmina burana“ ungelegen kämen. Die 1937 uraufgeführte szenische Kantate verlangt die große Besetzung. Ohne sie macht der gewaltige Eingangschor über die Willkür der Göttin Fortuna keinen Spaß. Ohne kräftige Männer- und Frauenstimmen sind auch die Schenkenlieder und musikalischen Liebeleien nicht zu denken. In dieser Hinsicht funktioniert Rattles Patchwork-Chor hervorragend. Die Prise Neuheit, Energie und Aggressivität, die er ausstrahlt, erinnert von fern an den Jubel, den das Silvesterkonzert von 2004, ebenfalls mit den „Carmina burana“, auslöste.

Und doch ist es auch ein gespenstischer Abend. Wer bisher daran gezweifelt hat, dass Orffs Musik „faschistischer Müll ist“ (George Steiner), weiß es jetzt wieder. Klang- und Menschenmassen allerorten, wimmelnde Leiber, sich reckende Arme – glücklicherweise zeigen die Handflächen nach oben. Vielleicht braucht es einen Mann wie Maldoom, um die ungebrochene Lust am Urtümlichen, Einfachen, tatsächlich Kollektiven hierzulande wieder einzuführen. Dass der Abend die hunderte Teilnehmer ebenso wie das Publikum über alle Maßen begeistert, ist offensichtlich. Ebenso klar aber dürfte sein, dass die Philharmoniker gut daran täten, der Breitenarbeit wieder einen stärkeren Fokus auf das genuin eigene musikalische Engagement entgegenzusetzen. Dass sie höchstpersönlich spielen, adelt die Education-Projekte. Zu gleicher Zeit haben sie Besseres zu tun, als in der Arena zu sitzen und mikrofonverstärkt die „Carmina burana“ zu begleiten. Der Imagetransfer funktioniert auf lange Sicht nur, wenn auch die eigene Arbeit stimmt.

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