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Kultur: Kinder des Teufels

Stefan Kiesbyes versinkt im „Hemmersmoor“

Der Tod wirft gleich zu Beginn einen langen Schatten. Nachdem seine Mutter gestorben ist, kehrt Christian Bobinski aus den USA zurück nach Deutschland. In dem tristen Dorf, in dem er aufgewachsen ist, liegen bereits die Gräber seines Vaters und seiner jüngeren Schwester. Auch Anke, die er von früher kennt, ist gerade verstorben. Zu ihrem Begräbnis findet sich eine kleine, verbitterte Runde von Jugendfreunden ein, gequält von zunächst noch vagen Erinnerungen an „Vorfälle von vor über vierzig Jahren“. Die Geister der Vergangenheit erheben sich aus ihren Gräbern.

Der Schriftsteller Stefan Kiesbye, geboren 1966 in Eckernförde, lebt wie sein Protagonist in den USA. 2008 erschien in einem kleinen Verlag sein erster Roman „Nebenan ein Mädchen“, eine Geschichte über das Aufwachsen in einer norddeutschen Kleinstadt, erzählt mit einer Mischung aus teenage angst, erwachender Sexualität und unterdrückter Gewalt. Kiesbyes einfühlsames Debüt, das er erst auf Englisch veröffentlicht hatte, wurde innerhalb der deutschen Krimi-Szene zu einem Bestseller. Sein zweiter Roman „Hemmersmoor“ erscheint nun im Tropen Verlag, einem Imprint von Klett-Cotta. Schauplatz ist Hemmersmoor, ein fiktives Dorf im menschenfeindlichen Teufelsmoor, jener gespenstischen Sumpflandschaft im Norden Niedersachsens.

Nach der bedrückenden Anfangsszene springt die Erzählung zurück in Christian Bobinskis Kindheit und frühe Jugend in den sechziger Jahren. Es geht um eine Reihe realer, erschreckend nüchtern geschilderter Gewaltakte, die in albtraumartige Szenarien verpackt sind. So kommt zum Jahrmarkt ein diabolisch wirkender Schausteller nach Hemmersdorf, der Besuchern seines Zeltes einen „Blick in die Hölle“ verspricht – und Christian überredet, ihm die Seele eines Menschen zu bringen. Der Junge, er ist damals elf oder zwölf Jahre alt, schleicht sich daraufhin in das Zimmer seiner jüngeren Schwester und erstickt sie mit dem Wäschesack.

Kein Einzelfall: Eine junge Frau bricht einem Säugling auf dem Gutshof von Hemmersmoor aus Rachsucht das Genick; Christian und seine Freunde überreden einen Spielkameraden, auf einem zugefrorenen Fluss in ein Eisloch zu springen. „Droste“ heißt der Fluss, und die Anspielung auf Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht „Der Knabe im Moor“ ist gewollt: „Oh, schaurig ist’s übers Moor zu gehen …“ Das ist ein Trick: Kiesbye reaktiviert die Bildsprache des frühen 19. Jahrhunderts. Er erzählt von geheimnisvollen Erbschaften, Friedhöfen und Mühlen, auf denen ein Fluch lastet, er lässt Untote, Wiedergänger und Irrlichter durch die Sumpflandschaft geistern.

Aber das Versprechen der Romantik, die Nachtseite der menschlichen Seele zu erkunden, löst er gerade nicht ein. Die verführerische Metaphorik aus den hohen Zeiten der deutschen Literaturgeschichte liegt über dem Text dieses Romans wie eine samtschwarze Lackschicht, die oft aufreißt und den Blick auf rohe Gewalt freigibt, die fester Bestandteil unserer Zivilisation ist. Und: die keine Altersgrenzen kennt. Hier morden auch Kinder und Jugendliche.

Stilistisch ist das nicht immer sauber gearbeitet, und man fragt sich, ob der Wechsel von einem sorgfältig arbeitenden Independent-Verlag zum verkaufsorientierten „Major Label“ jedem Schriftsteller gut tut. Am Grauen, das von diesem verstörend psychologiefreien Roman ausgeht, ändert das aber nichts. Für die Taten von Christian und den anderen „bösen Kindern“ gibt es keine Erklärungen. Da ist nichts, was den Leser entlasten würde. Bei der Lektüre stellt sich das gleiche, unheimliche Gefühl ein, das einen beschleicht, wenn die Medien über schulpflichtige „U-Bahn-Schläger“ und jugendliche „Intensivtäter“ diskutieren.

So hat dieses zunächst scheinbar aus der Zeit gefallene Stück Prosa etwas bedrohlich Aktuelles und verweist auf gegenwärtige Abgründe. Lassen wir alle Hoffnung fahren: „Der Eingang zur Hölle“, heißt es an einer Stelle, „liegt in Hemmersmoor.“ Kolja Mensing

Stefan Kiesbye

Hemmersmoor.

Roman. Tropen Verlag, Stuttgart 2011.

206 Seiten, 17, 95€.

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