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Aus zwei wird eine: Patchworkfamilien werden vom Ausnahme- zum Normalfall.

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Kinder, die pendeln: Die Patchwork–Lüge

In ihrer Streitschrift "Die Patchwork-Lüge" will die Journalistin Melanie Mühl den Mythos vom Erfolg der Patchwork-Familie entlarven. Doch der existiert gar nicht.

Das gibt es selten, dass ein Buch schon auf der ersten Seite seinen Leser gegen sich aufbringt. Oder, freundlicher formuliert, dass es sein Versprechen, eine „Streitschrift“ zu sein, wirklich gleich zu Beginn an einlöst. Patchwork-Familien, weiß die „FAZ“-Kulturredakteurin Melanie Mühl in ihrem Buch „Die Patchwork-Lüge“, sind „modern, lässig, cool und unkonventionell“. Und: „Patchworker sind nie Verlierer, sie sind stets Gewinner.“

Mühl weiß das, weil sie allein von Berufs wegen viel Zeitungen und Magazine liest. Und weil sie viel Fernsehen schaut und sich in der Vorabendserienwelt genauso auskennt wie auch im Kino. Die Medien liefern ihr den Stoff, um den Trend zum Patchwork in unserer Gesellschaft als Lüge zu entlarven, als gefährlichen Hype, der das Patchwork-Familienmodell zum ultimativen Familienmodell stilisiert, zum „Glücksmodell“ gar.

Dass es den Trend zur Patchwork-Familie gibt, also zu einer Familie, in der beispielsweise Kinder mit unterschiedlichen Elternteilen aufwachsen, ist unbestritten. Das belegen Zahlen, etwa dass inzwischen in Deutschland jede dritte Ehe wieder geschieden wird, das belegen die immer erfolgreicher werdenden „Kids-On-Tour“ Angebote der Bahn oder der „Rotkäppchen“-Service der Lufthansa, die sich um alleinreisende Kinder kümmern – Kinder, die jenen Elternteil besuchen, mit dem sie nicht ständig zusammenleben. Und das deckt sich natürlich mit alltagsweltlichen Erfahrungen. Wenn die eigene Tochter sich wundert, dass die Eltern vieler Schulfreundinnen getrennt sind, und fragt, warum das so ist. Oder wenn es im Freundes- und Kollegenkreis plötzlich mehr Alleinerziehende oder eben „Patchworker“ gibt als Paare mit Kindern, die seit ewig und drei Tagen zusammen sind. Aber dass die vielen Patchworker alles glückliche Menschen sind, sie sich als Trendsetter fühlen, als cool oder lässig? Ja, und dass ihr Modell wirklich nur ganz am Rande auf purer Notwendigkeit beruht, dass es darin so gar nicht knirschen und haken und voller Enttäuschungen zugehen soll, das hört man dann doch zum ersten Mal.

Lesen Sie auf Seite zwei: Schweiger, Becker und Wulff als prominente Patchwork–Beispiele.

Melanie Mühl aber hat Gewährsleute. Die Wulffs zum Beispiel, die überglückliche Patchwork-Familie unseres Bundespräsidenten Christian Wulff und seiner zweiten Frau Bettina. Beide brachten jeweils ein Kind mit in ihre neue Beziehung und zeugten zusammen ein weiteres. Dieser Patchwork-Familie „haftet kein Makel an“, schreibt Mühl. „Im Gegenteil, es wirkt, als sei die Patchwork-Konstellation eine Leistung, für die man den Wulffs zu Recht anerkennend auf die Schulter klopft.“ So, so. Und nicht nur denen, auch bei Til Schweigers zwei Familien muss das wohl so sein, bei Boris Becker und Barbara Feltus, bei den Klums, bei Horst Seehofer. Ja, und in Serien wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ ist es gar so, dass darin überhaupt keine gewachsenen Familien, also Kernfamilien vorkommen, dass hier jede Figur Patchwork-Konstellationen entstammt. Und überhaupt: „Die Serien-, Krimi- und Fernsehfilmprotagonisten leben am liebsten als kinderlose Großstadtsingles (es sind mehr als doppelt so viele wie in der Realität).“

Verwunderlich ist, dass Mühl nicht den leisesten Verdacht hegt, insbesondere bei ihrer Beobachtung der Patchwork-Prominenten, gezielten medialen Inszenierungen aufzusitzen. Einem Bundespräsidenten ist nicht daran gelegen, medial schmutzige Wäsche zu waschen oder familiäre Probleme auszubreiten. Auch bei Helmut Kohl war das nicht viel anders, nur umgekehrt, im Sinne von Mühl: Ein Familienidyll, eine vorbildliche Familie bekam die Öffentlichkeit von den Kohls vorgeführt. Seit Hannelore Kohls Suizid und erst recht seit den jüngsten Büchern über Hannelore und vom Kohl-Sohn Walter weiß man, wie es wirklich war. Mediale Wirklichkeit und Lebenswirklichkeit sind Parallelwirklichkeiten – und doch reagieren Serien und Filmen auch auf ein Bedürfnis, Lebenswirklichkeiten gespiegelt zu sehen. Erst kam die Patchwork-Familie, dann der Trend zur Patchwork-Familie, und schließlich die Serien und Filme mit oder über Patchwork-Familien.

Lesen Sie weiter: Warum die Familie ein Unglück sein kann.

Melanie Mühl interessiert das nicht besonders. Ihr geht es, das wird insbesondere am Anfang des Buches nicht so recht klar, um den Zusammenhalt, die Wertschätzung der Kernfamilie, wohl wissend, dass vielleicht ein Ende mit Schrecken manchmal auch besser ist als ein Schrecken ohne Ende: „Die Familie kann ein Unglück sein.“ Um dann, bevor sie auf die Problematik der Scheidungskinder zu sprechen kommt, Kulturkritik en gros zu üben und alles zusammenzurühren, was es an gesellschaftlichen Veränderungen und Phänomen in den vergangenen Jahrzehnten gegeben hat: die Sehnsucht nach totaler Unabhängigkeit, nach totaler Freiheit, der Trend zur unbedingten Selbstverwirklichung, die zuverlässige Bindungen und Liebe immer schwerer zustande kommen lassen; die Durchökonomisierung auch zwischenmenschlicher Lebensverhältnisse; der Jugendwahn, der „Frühförderwahnsinn“, der „Erziehungswahnsinn“, den wir unseren Kindern angedeihen lassen etc.

Hin und her geht es in diesem Buch, das man auch einen kulturkritischen und kulturtheoretischen Flickenteppich nennen könnte. Mühl macht gute, wenn gleich nicht immer neue Beobachtungen, hat richtige Einwände und beklagt die Unverbindlichkeit der Welt: „Man bekommt den Eindruck, es gehe darum, die Kinder für eine Gesellschaft fit zu machen, deren Zerfall man bereits schulterzuckend akzeptiert hat.“ Darüber lässt sich natürlich streiten. Sie hat Bücher wie Frank Schirrmachers „Methusalem-Komplex“, Sven Hillenkamps „Das Ende der Liebe“ oder Frank Böckelmanns „Risiko, also bin ich“ gelesen und ausgewertet, gibt sich als Wertkonservative genauso wie sie ein paar feministische Thesen vertritt und sich als Kapitalismuskritikerin übt.

Nur weiß man irgendwann wirklich nicht mehr, wohin das alles führen soll, was Mühl eigentlich bekämpft, wofür sie streitet. Ja, doch, klar, irgendwie für die Familie, „das Fundament der Gesellschaft“, für einen „altmodischen Loyalitätsbegriff“, für ein Leben, das nicht mit dem „gesellschaftlichen Experiment“ zu tun hat, „das wir auf den Weg gebracht und über das wir die Kontrolle verloren haben“. Am Ende wird sie richtiggehend alarmistisch, da ist gleich der „Zusammenhalt unserer Gesellschaft in Gefahr“, sind viele Scheidungskinder „tickende Zeitbomben“. Damit landet Mühl dann endgültig dort, wo sie in letzter Konsequenz hinwollte: in den Talkshows. Wo sie all diejenigen trifft, die ihr die Ausgangsthesen für ihr Buch beschert haben, die Medienprominenten.

Der Patchwork-Wahrheit aber, die Mühl als Lüge entlarven will und vielleicht dann gar nicht mehr als Lüge entlarven muss, der kommt sie hier nicht auf die Schliche, dafür müsste sie sich vielleicht einmal woanders umschauen: in der Alltagsrealität. Cool und lässig – man braucht nicht einmal Patchworker zu sein, um das zu wissen – ist jedenfalls etwas anderes.

Melanie Mühl: Die Patchwork-Lüge. Eine Streitschrift. Hanser Verlag, München 2011. 172 Seiten, 16,90 Euro.

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