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Kultur: Kinder, Tiere, Trödel - Spurensuche mit Wilhelm Genazino

Es ist lange her, da gab es in der deutschen Literatur einen mit dem unsäglichen Namen Abschaffel. Beruf Angestellter, als solcher lebensuntauglich und neurotisch.

Es ist lange her, da gab es in der deutschen Literatur einen mit dem unsäglichen Namen Abschaffel. Beruf Angestellter, als solcher lebensuntauglich und neurotisch. Wilhelm Genazino hat diese Figur vor über 20 Jahren entworfen, seine Roman-Trilogie "Abschaffel" galt als Exempel der Angestelltenliteratur. Schon damals beeindruckte sein fotografischer Blick: Abschaffel erfasste Alltagsszenen mit unglaublicher Schärfe, um sie anschließend fieberhaft reflektierend zu zerlegen und auf sich selbst zu beziehen. Dieses krankhafte Schauen - notwendig, um einen wie Abschaffel zu charakterisieren - hat Genazino im Laufe der Zeit positiv gewendet. Spätestens seit "Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz" (1989) schaut man gerne mit diesem Blick: Genazinos Bücher sind Augenfibeln für Großstadtmenschen, verflogen ist der Mief von Großraumbüros.

Einen Band herauszugeben, in dem die Szenen schon als fertige Bilder vorliegen, erscheint folgerichtig. "Auf der Kippe" ist bereits der zweite Band dieser Art. Er nennt es: ein Album. Das heißt, man darf darin blättern, Seiten überschlagen, verweilen - und sich erinnern. Es gibt Notate zu den Fotos, die der Autor gefunden hat "auf Flohmärkten, bei Trödlern und in Mischantiquariaten", um sie vor dem "Absinken in die Anonymität" zu bewahren. "Erst die Einzelbetrachtung beendet das Schicksal der Vergessenheit und gibt den Bildern die Dignität von Dokumenten zurück".

Wilhelm Genazinos kleine Hilfestellung am Ende weist auf ein ästhetisches Gefüge: Erst der zum Text geformte lange Blick (der Autor nennt ihn einmal "den gedehnten Blick") veredelt das Bild, bringt es zum Sprechen und entlockt ihm eine Botschaft. Endlich schreibt Genazino seine ganz eigene Geschichte des Blicks fort. Er wählt dafür eine Form, die seine Stärke ist: den Kurz-Essay. Herausgegriffen aus dem Album: ein Mädchen. Kinder und Tiere betrachtet Genazino besonders gerne. Vielleicht, weil sie noch nicht "gemacht", nicht trainiert sind. Man kann leichter in ihnen lesen. Dieses Mädchen auf dem Foto "schaut ein bisschen leer und erschöpft in die Welt" und hält einen Ball in der Hand. Oder besser: hält sich daran fest. Der Ball "soll mithelfen, die Reste der Erschütterung zu zerstreuen." Einer Erschütterung, die diesem Foto zuvorging und die wir nicht kennen. Aber sie hat Spuren hinterlassen. Darauf kommt es Genazino an: Sein Buch betreibt Spurensuche, und der sprachliche Kommentar zum Bild mündet in eine Art These: "Dieses erstaunliche Foto zeigt die nur kurz sich öffnende Kluft zwischen einem Schmerz und seiner Auflösung. Das Gefühlsleben des Kindes ist für Augenblicke (sozusagen) in ein Stottern geraten."

Überflüssig zu sagen, dass Genazino mit seinen Erläuterungen den Blick lenkt - im Unterschied zu privaten Alben. Aber ihm gelingt mit jeder neuen Text-Foto-Einheit etwas sehr Schönes: "die Sache aufzuschließen", wie Adorno als Kennzeichen für den guten Essay formulierte. Genazino vergibt die Schlüssel zu den Fotos in adäquater Form: kurz und treffsicher. Was man damit aufschließt, sind lange Geschichten, die weitergedacht und individuell zurechtgeschrieben werden dürfen. Es gibt übrigens einen Unterschied zu dem ebenso wertvollen (leider vergriffenen) Vorgänger dieses Bandes: "Aus der Ferne" (Rowohlt 1993) versammelte Postkarten meist bekannter Fotografen wie Robert Doisneau. Kein Album also. "Auf der Kippe" hat eine neue, bemerkenswerte Qualität dazu erhalten. Die Fotos, viele aus der Zeit um die Jahrhundertwende, waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Der Raum, den Genazino betritt, ist um vieles privater geworden, die Fotos deutlicher von Zufall und Flüchtigkeit bestimmt.Wilhelm Genazino: Auf der Kippe. Ein Album. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000. 65 Seiten, 38 DM.

Anja Hirsch

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