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1. Berlinale: Alles auf Anfang

"Unwürdige Szenen" entsetzten den Tagesspiegel am 6. Juni 1951. Dabei hatte nur die erste Berlinale begonnen.

Der erste Satz: kein freudiger Aufbruch in die Zukunft, vielmehr ein melancholischer Blick aufs Gestern. „Letzte Nacht träumte ich, ich kehrte zurück nach Manderley“ – mit diesen Worten aus Alfred Hitchcocks „Rebecca“, aus dem Off gesprochen von Joan Fontaine, begannen am 6. Juni 1951 die ersten Internationalen Filmfestspiele Berlin. Eine überraschende Wahl für solch ein Debüt: ein Film von 1940, dem deutschen Publikum immerhin unbekannt, entstanden im selben Jahr, als Veit Harlans „Jud Süß“ in Berlin deutsche Premiere hatte.

Das bis zum 18. Juni dauernde Festival war eben schon beim Eröffnungsfilm von Improvisation und Kompromiss geprägt, ein Wunder, dass es überhaupt stattfand. David O. Selznick, Produzent von Kinolegenden wie „Vom Winde verweht“ und eben auch „Rebecca“, hatte zum neuen Filmfest den von ihm gestifteten „Silberlorbeer“ beigesteuert, zu verleihen an ein der Völkerverständigung besonders dienliches Werk. Da wollte man sich auch in Berlin großzügig zeigen, akzeptierte zur Eröffnung die Archivware – außer Konkurrenz. Und man nahm es auch hin, dass Joan Fontaine, unbestrittener Superstar dieser 13 tollen Tage, nicht etwa zur Eröffnung kam, sondern kurz vor Schluss des Festivals, gleichwohl auf dem Flugplatz Gatow empfangen wie eine Königin: „Von London aus war sie zunächst nach Köln geflogen, und um Punkt zwei Uhr saß sie bereits in der gewaltigen, von Eichenlaub bekränzten und mit Blumen geschmückten Luxuslimousine“, berichtete der Tagesspiegel. Auf der Fahrt zum Rathaus Schöneberg sei sie „von einer Eskorte von vier weißbemützten Polizisten auf Motorrädern“ geleitet worden, „hinter ihrem Wagen schloss sich (...) der Kometenschweif einer immer größer werdenden Kolonne von Motorfahrzeugen an, deren Gehupe und Getute die Schwüle der über den Straßen liegenden Mittagsmüdigkeit zerriss.“

Das war schon eine Extraportion Glamour, während die vom Frontstadt-Alltag gebeutelten Berliner davon sonst allenfalls Brosamen erhielten. Gewiss, Hollywood-Star Montgomery Clift hatte hier 1949 kurz nach der Blockade das Luftbrücken-Drama „The Big Lift“ gedreht, aber die heimische Filmindustrie, deren Zentrum die besetzte Stadt einst war, suchte zunehmend das Weite, meist Richtung München. Irgendwas musste geschehen, das dachte sich mancher in West-Berlin, die Initialzündung aber kam von Oscar Martay, Filmoffizier beim amerikanischen Hochkommissar. Auf sein Betreiben kam im Herbst 1950 ein Gründungsausschuss zusammen, mit ihm selbst, seinem britischen Kollegen, Vertretern der West-Berliner Behörden, der Filmindustrie, der Kinowirtschaft sowie dem Filmjournalisten Manfred Barthel vom „Abend“.

Schon auf der ersten Sitzung am 9. Oktober 1950 im damaligen Amerika-Haus in der Kleiststraße10–12, heute Standort der Urania, wurden Grundzüge der Berlinale festgelegt, wie Filmhistoriker Wolfgang Jacobsen in seinem leider bislang nicht fortgeschriebenen Band „50 Jahre Berlinale“ (Nicolai) schildert. Der Sommertermin war schon deswegen nötig, weil es kaum intakte große Kinos gab und man so die Waldbühne nutzen konnte. Auch ein silberner Bär als Preis war im Gespräch, und eines war sowieso klar: Der Osten blieb ausgeschlossen, die Berlinale sollte ja kein Labor für friedliche Koexistenz werden, sondern Schaufenster des freien Westens, zudem Konkurrenz zu den ebenfalls im Sommer geplanten Weltjugend-Festspielen in Ost-Berlin.

Bis dahin war es noch ein steiniger Weg, und Alfred Bauer, seit Mitte November 1950 Leiter der Filmfestspiele, beklagte sich manches Mal über völlig unzureichende Arbeitsbedingungen. Personal stand ihm nur in Minimalbesetzung zur Verfügung, er selbst musste monatelang auf seinen Vertrag warten und zudem die Ausgaben vorübergehend durch ein von ihm aufgenommenes Privatdarlehen begleichen. Auch gab es überraschenden Widerstand aus der Filmindustrie: der deutschen, weil sie ihre Produktionen für noch nicht konkurrenzfähig hielt, der französischen und italienischen, weil sie fürchteten, einen künftigen Konkurrenten für Cannes und Venedig heranzuzüchten. Bauer kam dem entgegen, bestand zwar, den Status als A-Festival vor Augen, auf einer Jury, berief aber nur einheimsche Kräfte, darunter Walther Karsch, Kritiker und Mitbegründer des Tagesspiegels, sowie „Insulaner“-Kabarettistin Tatjana Sais, die den inoffiziellen Namen „Berlinale“ erfand. Trotz anfänglichem Zögern spielte die Filmindustrie dann doch mit, so dass schließlich 34 Spielfilme und 80 sogenannte Kulturfilme aus 20 Ländern auf dem Programm standen. Insgesamt 15 Bären in Gold, Silber und Bronze waren zu vergeben, in fünf Kategorien, und auch das Publikum sollte per Stimmzettel seinen Lieblingsfilm küren. Als Aufführungsort war neben der Waldbühne der von den Amerikanern beschlagnahmte Titania-Palast in der Steglitzer Schloßstraße ausgewählt worden, den diese mietfrei zur Verfügung stellten, gleichwohl blieb es ein Kompromiss. Vom „Hotel am Zoo“ am Kurfürstendamm 25 – dort wohnten die Stars, fanden die Pressekonferenzen statt – war es zu weit entfernt. Auch war der dem Kino benachbarte Wochenmarkt auf dem Gelände des heutigen Forums Steglitz dem Glamour sehr abträglich, wie eine Filmfirma in einem Leserbrief an den „Telegraf“ beklagte: „Bei entsprechender Windrichtung konnte man im Foyer auch feststellen, dass mit Heringen gehandelt wurde.“

Für den Eröffnungsabend war derlei nicht zu befürchten, es hätte das Publikum in seiner überschwänglichen Begeisterung ohnehin kaum irritiert. „Steglitz stand Kopf. D. h. eigentlich stand es Schlange. Es stand Mauer. Die Polizei riegelte ganze Straßenzüge ab, als lägen hochentzündliche Minen in der Gegend. Das Publikum kam auf seine Kosten, was die deutschen Stars anbelangte; die schon für die verschiedenen Hotelbetten bestimmten ausländischen waren noch unsichtbar“ – so schilderte der „Telegraf“ den ersten Berlinale-Trubel, während der Tagesspiegel auch „unwürdige Szenen“ und „Schwächen der Organisation“ entdeckte: Polizisten und Ordner wurden dem Ansturm kaum Herr. Es gab ja auch einiges zu sehen, den braun gebrannten Hans Söhnker etwa, Olga Tschechowa, Viktor de Kowa, Willi und Kurt Meisel, Theo Lingen, Carl Raddatz, dazu einen ganzen Schwarm einst hoch gehandelter, heute vergessener Filmkünstler, die im Saal erst mal von den Berliner Philharmonikern unter Leo Blech und diversen Rednern, darunter der Regierende Bürgermeister Ernst Reuter, begrüßt wurden. Auch erste Preise wurden vergeben, Selznicks Silberlorbeer für „Herrliche Zeiten“ und der erste Bundesfilmpreis für „Das doppelte Lottchen“. Danach sah man Hitchcocks Ausflug nach Manderley.

Ein trotz aller Unzulänglichkeiten glanzvoller Auftakt also, Ausdruck der enthusiastischen Grundstimmung, mit der die Stadt ihr neues Festival empfing. Und sollten auch hinterher die Kritiker organisatorische Mängel und Juryentscheidungen geißeln oder Volksbildungssenator Joachim Tiburtius die Qualität der deutschen Filme – bei den Zuschauern, denen aus West- wie auch denen aus Ost-Berlin, für die es verbilligte Vorführungen gegeben hatte, war die erste Berlinale ein grandioser Erfolg, schon wegen der vielen Gelegenheiten, Stars zu besichtigen, sei es anlässlich der Vorführungen im Titania-Palast und in der Waldbühne, des Filmballs im Prälat Schöneberg, der „Internationalen Starrevue“ im Sommergarten am Funkturm oder beim Auto-Blumenkorso.

Das Publikum sollte in den kommenden Jahren sogar noch mehr Einfluss gewinnen, musste doch auf internationalen Druck schon 1952 die Jury abgeschafft und die Preisvergabe ganz den Zuschauern überlassen werden. Funktioniert hat das dazu ersonnene Verfahren mit vierfach markierten Eintrittskarten aber nicht, wie sich der Filmjournalist Manfred Barthel in einem Film von Michael Strauven zur 50. Berlinale erinnerte: „Clevere Filmverleiher hatten einfach die Karten aufgekauft und nur ,Gut‘ abgerissen. Zum Schluss waren mehr ,Gut‘-Karten im Kasten, als Besucher im Kino waren.“

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