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60. Berlinale: Der freie Blick

60 Mal Berlinale, das ist 60 Mal Spektakel und Glamour, aber auch 60 Mal ein Fest rund um ein Wechselspiel der Blicke. Der Zuschauer flüchtet vor der Unbill der Welt, und wenn der Film etwas taugt, dann vergisst er die Welt und setzt sich ihr doch vollkommen aus - ein Spiel, dass nicht vor dem Bildschirm zu Hause funktioniert.

Nénette schaut einfach nur. Die ganze Zeit schaut sie einen an, unergründlich, unerbittlich. Man staunt, freut sich und merkt, es ist nicht leicht, ihrem Blick standzuhalten. Nénette, das älteste Orang-Utan-Weibchen im Pariser Zoo, 70 Minuten lang, in einem Film von Nicolas Philibert, zu sehen auf der 60. Berlinale.

Ein kluger Mensch hat einmal gesagt, im Fernsehen schaust du die Bilder an, im Kino schauen die Bilder dich an. 60 Mal Berlinale, das ist 60 Mal Spektakel und Glamour, aber auch 60 Mal ein Fest rund um dieses Wechselspiel der Blicke. Der Zuschauer flüchtet vor der Unbill der Welt, und wenn der Film etwas taugt, dann vergisst er die Welt und setzt sich ihr doch vollkommen aus. Einer Vision (oder Horrorvorstellung) von ihr, an der man die eigene Einstellung misst. Es ist ein intensives, aufwühlendes Spiel.

Das Spiel funktioniert nicht vor dem Bildschirm zu Hause. Eben das ist die Überlebensgarantie der Berlinale, in einem Jahrhundert, in dem Film und Kino nicht mehr dasselbe sind. Die Revolution ist längst in Gang. Filmbilder laufen auf dem Flatscreen im Wohnzimmer, auf dem Laptop, auf Youtube, dem Handy und demnächst auf dem iPad. Pay per View für ein Millionenpublikum ist nur eine Frage der Zeit, auch Festivals dürften sich in einigen Jahren problemlos im Internet ausrichten lassen. Stell dir vor, es ist Berlinale und alle bleiben daheim!

Die Kinos begegnen der Gefahr mit technischer Aufrüstung, Beinfreiheit und 3-D-Spektakeln. Die Berlinale ist – noch – Spektakel genug. Das Publikum weiß im digitalen Zeitalter den analogen Festival-Mehrwert zu schätzen: die Nähe zu Stars, die Tuchfühlung, das direkte Gespräch mit Filmemachern über Moral und Schauwert der Bilder. Dazu bietet die Filmauswahl Orientierung im unübersichtlichen Medienzirkus (weshalb das Festival sich nicht mit immer neuen Neben- und Spezialreihen verzetteln sollte). Der größte Mehrwert der Berlinale ist aber ihre Mischung aus Party und Politik, Entertainment und Engagement, eine Tradition, die sie von der Konkurrenz in Cannes oder Venedig unterscheidet.

Die Welthaltigkeit hat sie sich jedenfalls nicht erst auf die Fahnen geschrieben, seit der amtierende Berlinale-Chef Dieter Kosslick sich für Bio, Öko und Slow Food stark macht. Das 2009 mit einer halben Million Kinobesuchen weltweit größte Publikumsfilmfest verstand sich von Anfang an auch als politisches Statement. 1951 gewissermaßen als Marshallplan für die Fantasie von einem amerikanischen Filmoffizier initiiert, war sie kultureller Brückenkopf, Ostwestdrehscheibe, Völkerverständigungsbörse. Ob Kalter Krieg, Vietnam, Mauerfall oder in diesem Jahr Iran, Irak und China sowie die zahlreichen Geschichten von der Familie in Krisenzeiten: Auf der Berlinale reiben sich die Träume an der Wirklichkeit und schlagen Funken.

Welches Statement will die Berlinale im Jubiläumsjahr 2010 abgeben? Kosslick wünscht sich, dass vor allem ein Bild im Gedächtnis bleibt: das Bild vom Vorhang , einer Kunstaktion am Brandenburger Tor im Filmformat 16:9. Völker, seht die Signale! Hier versammeln sich Menschen, um gemeinsam einen Blick auf die dunkle Seite des Mondes zu werfen. Nur hier kann das Wechselspiel der Blicke Kräfte freisetzen. Deshalb gastiert die Berlinale erstmals in zehn Kiez-Kinos und lädt Sir Norman Foster, den Schöpfer der gläsernen Reichstagskuppel, zum Gespräch über die Zukunft der Filmtheater-Architektur. Demokratie und Kino verbindet viel. Kino atmet Freiheit.

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