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© Berlinale

Bären-Kandidat: Jagdszenen aus dem Wiener Wald

Ein Bären-Kandidat: Andreas Lust ist "Der Räuber" in Benjamin Heisenbergs Studie eines Serientäters und Marathonläufers.

Dieses Geräusch. Tok tok tok, ein monotones Ostinato, Schritt für Schritt, locker abgefedert, Arme angewinkelt, immer weiter, im Kreis auf dem Gefängnishof und nach der Entlassung auf den Straßen von Wien oder in den Wäldern, auch nachts, mit Pulsmesser und mit einer Kopflampe für den Bergmarathon.

Johann Rettenberger (Andreas Lust) ist Marathonläufer. Und Bankräuber, wie der Titel verrät. Wenn man ihn rennen sieht, beim Training auf Bergpfaden, beim Sprint über die Zielgerade des Wiener Citylaufs, stürzend und flüchtend nach zwei, drei Überfällen an nur einem Tag, mit Bankräubermaske oder ungetarnt mit stoischem Blick, dann fällt einem auf, das ist der Berlinale-Held 2010 schlechthin.

Jagende, gejagte Männer, Männer auf der Flucht, unter unglaublichem Druck, außer Atem, außer Gefecht. Das gab es schon in „Shutter Island“ von Martin Scorsese, im rumänischen Gefängnisfilm „If I Want to Whistle ...“, bei Thomas Vinterberg, bei Thomas Arslan oder, in der Slapstick-Variante, in Zhang Yimous Komödie „A Woman, a Gun and a Noodle Shop“. Am heutigen Dienstag setzt sich die Reihe im Wettbewerb fort, mit „The Hunter /Zeit des Zorns“ von Rafi Pitts aus Iran.

Ein Krisensymptom? Benjamin Heisenberg hat zum Glück alles andere als einen Metaphernfilm gedreht. Er schaut diesem Mann vielmehr konzentriert zu, umgibt ihn mit schreiend stillen Bildern, auf denen die Welt aussieht wie ein kalter, fremder Planet. Er schaut ihm zu, wie er bei einer früheren Freundin (Franziska Weisz) doch eine Art Nähe sucht, bald aber sagt: „Was ich mache, hat mit dem, was du Leben nennst, nix zu tun.“ Wie er wortlosen, freudlosen Sex mit ihr hat. Wie er weiter trainiert und Banken überfällt, nicht wegen des Geldes, sondern wegen des Kicks, wie er seinen Bewährungsbeamten erschlägt, weil der sich nicht abhängen lässt, wie er aus der Polizeiwache türmt und zum Jagdwild wird, sich im Erdloch versteckt, ein blutendes, waidwundes Tier, das nicht zu fassen ist, bis zum letzten sterbenstrüben Blick auf die Autobahn. Und die Scheinwerfer wischen quietschend über die Frontscheibe.

Heisenbergs Held ist dem Serienräuber und Marathonsieger Johann Kastenberger alias „Pumpgun-Ronnie“ nachempfunden, der 1987 die größte Polizeiaktion Österreichs ausgelöst hatte. Den Roman dazu, „Der Räuber“ von Martin Prinz, las Heisenberg auf dem Flug zur Berlinale 2006, gemeinsam mit Prinz verfasste er das Drehbuch zu dieser deutschösterreichischen Koproduktion.

Der Regisseur als Verhaltensforscher (ja, er ist der Enkel des Physikers Werner Heisenberg): Sein erster Spielfilm, „Schläfer“ von 2005, beobachtet einen Mann, dem in einer Zwangslage die Moral verloren geht. „Der Räuber“ beobachtet einen Mann , der keine Moral kennt (und fast keine Eigenschaften), einen Täter, der mit unserer Lebensart „nix zu tun“ hat.

Heisenberg gelingt der seltene Fall von Introspektion ohne Identifikation, einer Annäherung ohne vorschnelle Empathie. Man mag ihn nicht, diesen Rettenberger, aber man begreift genau, warum er läuft und wie er tickt, wenn er sich in einer Kleingartensiedlung zwischen zwei Hecken in die Enge getrieben sieht und zuschlägt. Man bemerkt mit Schrecken, dass man sie eine Sekunde lang nachvollziehen kann, die Gewalt, die Obsession, das Entkommenmüssen, dieses innere Trommelfeuer, das manchmal auch über die Tonspur peitscht. Der letzte deutsche Täterfilm, der etwas Ähnliches auslöste, war Matthias Glasners „Der freie Wille“.

Heisenberg, Jahrgang 1975, hat nach einem interessanten Debüt einen zweiten Film von fast erschreckender stilistischer Präzision realisiert, ein starkes Stück Kino. Andreas Lust als „Der Räuber“, sein athletischer Körper, seine Angespanntheit, das bleiche, maskenhafte Gesicht: Es fräst sich einem ins Gedächtnis. Also doch ein Zeichen der Zeit? Man wird es jedenfalls so schnell nicht mehr los. Ein Bären-Kandidat? Unbedingt.

Heute 9.30 Uhr und 18 Uhr (Friedrichstadtpalast), 22.30 Uhr (Urania), 21.2., 21.30 Uhr (Union Filmtheater). „Der Räuber“ startet am 4. März im Kino.

Ein Mann auf der Flucht,

ein blutendes, waidwundes Tier, das nicht zu fassen ist

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