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Cannes: Ein Fest der Finsternis

Die Filmfestspiele von Cannes haben sich dieses Jahr selbst übertroffen.

Anna träumt. Sie hat sich in Micke verliebt, den Sänger der Black Devils, und plötzlich sitzt das Paar in einer Wohnschlafküche, sie im Hochzeitskleid, und er spielt ihr auf der E-Gitarre irgendwas vor. Der Blick aus dem Fenster geht auf unruhig Schwarzes, auf Landschaft, in Vorstädte und schließlich einen Bahnhof, auf dem sich eine Menschenmenge versammelt: Kein festes Haus also, in dem das Paar wohnt, sondern ein Zug, der wie ein zweistöckiges Haus aussieht! Und wenn die Menge draußen dem Hochzeitspaar zugejubelt hat und Micke ihr ein Lied gespielt, wird das Traumhaus mit den beiden einfach weiterfahren.

Erst mit dem Blick ins bewegte Freie, dann vom Bahnsteig aus zeigt die Kamera diese wunderbare Szene in Roy Anderssons "You, the living" - und wenn der Film des Schweden sich auch bald in einer Überdosis Kuriositäten verliert, so erzählt das eine Bild doch alles vom großen Cannes-Gefühl. Hier spielt die Musik, und wir, die wir täglich drei, vier, fünf Filme sehen, leben eine Zeitlang ausschließlich in einem Haus aus Träumen. Die Welt, die vor unseren Fenstern vorbeizieht? Aber ja, man kann Station machen in ihr, aber da draußen ist sie eigentlich ganz gut aufgehoben.

Die 60. Filmfestspiele von Cannes, die morgen mit der Palmen-Gala zu Ende gehen, waren ein kohärenter Genuss für Sinn und Sinne, wie er selbst diesem uneinholbaren Festival selten gelingt. Insgesamt schwindelerregend hoch das Niveau in allen Reihen, und wer sich ärgerte, tat dies mit kommunikativem Gewinn: Immer fanden sich kluge Verteidiger dessen, was kluge Verächter anders wahrgenommen hatten. Und während sonst auf Festivals vorm Finale oft das zähe Rätselraten darüber einsetzt, wer denn nun den Goldenen Soundso erobert, hat dieses Cannes mit Julian Schnabels bewegendem Krankheits-Biopic "Le scaphandre et le papillon" (Taucherglocke und Schmetterling) und Cristian Mungius packendem Abtreibungsdrama "4 luni, 3 saptamini si 2 zile" (Vier Monate, drei Wochen, zwei Tage) längst zwei unumstrittene Favoriten. Ungewöhnlicher noch: Ein Halbdutzend weiterer Filme, darunter Fatih Akins sanftes Migranten-Melodram "Auf der anderen Seite", darf mit allseitigem Wohlwollen rechnen, wenn denn einer von ihnen die Palme holen sollte.

Cannes fühlt dem Besten des Weltkinos alljährlich mit gelassener Präzision den Puls, und der Befund verblüfft diesmal in verschiedener Hinsicht. (Mittel-) Osteuropa, seit dem großen Riss Anfang der Neunzigerjahre fast völlig von der kinematografischen Weltkarte verschwunden, ist grandios auferstanden. Die führenden Filmregionen Amerika und Asien sind produktiv wie immer, aber auch die virtuosesten Übungen in ihren Lieblingsgenres verdecken kaum, dass sie erstaunlich wenig zu sagen haben. Das rein französische Kino, in Cannes immer besonders gehätschelt, bedient mit einem gefälligen Pariser Chansonfilm (von Christophe Honoré) und einem zeitweise kostümfreien Kostümfilm (von Catherine Breillat) fast besorgniserregend selbstgenügsam den Binnenmarkt. Schließlich: Kraftvolle Solitäre wie Mexiko oder Deutschland, die wachsend von sich reden machen, bereichern die Palette.

Gleich sechs Amerikaner dominierten den Wettbewerb, aber mit Ausnahme von Julian Schnabel, der für "Le scaphandre..." ganz in Europa arbeitete, haben sie in Cannes doch nicht viel ausgelöst. Quentin Tarantino gefiel sich, vor allem technisch bestechend, mit "Death Proof" einmal mehr im Manierismus, David Fincher versuchte, mit "Zodiac" allzu bürokratisch aus den auch nervtötenden Konventionen des Serienkiller-Genres auszubrechen, Gus van Sant variierte eher lustlos sein Privatgenre jungmännlicher Ziellosigkeits- und Einsamkeitsszenarien; und James Gray ersäufte seinen verheißungsvoll anhebenden Gangsterfilm "We Own the Night" zielstrebig im Dreieinigkeitspathos aus Gott, Familie und Vaterland.

Nur die Coen-Brüder kosteten im texanischen Drogendealerdrama "No Country for Old Men" zumindest von diskussionswertem Überbau, indem sie die so amerikanische Lust an der Gewalt ausdrücklich problematisierten. Nur was, wenn die Filmemacher zugleich vom offenkundigen Spaß an der großen Wumme nicht lassen mögen?

Da hätte Cannes auch gleich mit Steven Soderberghs "Ocean's Thirteen" eröffnen können - und sich damit den letztjährigen "Da Vinci Code"-Frust gleich wieder eingehandelt. Stattdessen marschierte mit George Clooney, Brad Pitt und Matt Damon der "Cast des Jahrhunderts", wie die örtliche Presse jubelte, erst am Donnerstag außer Konkurrenz die roten Teppichstufen hoch, und die Ouvertüre blieb dem strukturell erwachseneren asiatischen Kino überlassen. Doch Wong Kar-wai gab mit "My Blueberry Nights" einen seltsam elegischen Ton vor, den die Koreaner Kim Ki-duk und Lee Chang-dong allzu unisono wieder aufnahmen. Ob an erstem Liebeskummer, späten Ehenöten oder dem Tod eines kleinen Sohnes: Die Heldinnen asiatischer Filme leiden grundsätzlich, und leider leiden sie zunehmend dekorativ. In Lee Chang-dongs "Secret Sunshine" immerhin weist die vereinsamte Trauernde die Konfektionswärme einer Christengemeinde ab - nicht ohne alsbald in anderweitige Leiden zu verfallen.

Der Mexikaner Carlos Reygadas pinselt nicht dramaturgisch herum, sondern stellt in seinen Filmen - sieh oder stirb - eine Welt hin. "Stellet Licht", einer der leisen Favoriten des Festivals, eröffnet in genialischer Langsamkeit mit dem Lichtwerden eines neuen Tags. Auch dies ein Prinzip dieses Jahrgangs: Wer keine Geduld hatte mit Bildern und ihrer wandelbaren Schönheit, war in Cannes oft vom Start weg verloren. Und bevor es wieder Nacht wird in der protestantisch-mennonitischen Siedlung unter dem Himmel von Chihuahua, sind in aller Stille eine Ehe und eine Familie und ein Leben zerstört - und gerettet. "Stellet Licht" faszinierte und irritierte das Festival weniger spektakulär als Reygadas' sexuell expliziter Schocker "Battle in Heaven" vor zwei Jahren; dafür nachhaltiger.

Auch der Ungar Béla Tarr und der Russe Alexander Sokurow gehören zu den Regisseuren, die ästhetisch keinerlei Kompromisse machen. Tarr setzt auf ein meditatives Schwarzweiß und grundiert es akustisch mit Melancholie vom Akkordeon, Sokurow wäscht seine Farben ins Monochrome aus. Die Welt von "Alexandra", ein russisches Soldaten-Zeltlager in Tschetschenien, ist nachts mattgrün, tags mattbraun: Nichts weiter passiert, als dass eine alte Russin (großartig zurückgenommen: Galina Vishnewskaya) im Lager ihren Enkel besucht, in die nahe Stadt auf den Markt geht, zurückkehrt und bald wieder aufbricht - ein langsames, ziviles, humanes, beschützenswertes Herumgehen zwischen all diesen todbringenden, todgeweihten Jungs. Auch Sokurows unpathetische Alltagsparabel auf den Wahnwitz jedes Krieges ist einer der großen Filme dieses Festivals. Ob der neue Kusturica, der heute den Wettbewerb beschließt, den Triumph der Osteuropäer vollkommen macht?

Bleiben die Deutschen. Sie waren, abseits von Akins deutsch-türkischem Familiengemälde, auch in den Nebenreihen präsent wie nie, mit Robert Thalheim, Jan Bonny und - Volker Schlöndorff und seiner Liebeslandschaftgeschichte "Ulzhan". Jahrelang waren sie aus Cannes verschwunden, inzwischen gehören sie wieder zur Familie. Sind in den Zug eingestiegen, der ein Haus aus Bildern ist, und ab und zu drängt sich draußen die Menge. Die verläuft sich; die Bilder reisen.

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