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CITY Lights: Foxtrott und Folter

Frank Noack würdigt zwei Märtyrer der Filmgeschichte

Wenn ein Film wehtut, dann meist nur vordergründig. Schuss- und Schnittwunden sind kein schöner Anblick, aber der erfahrene Zuschauer betrachtet die Verstümmelungen als technische Angelegenheit und bewundert die Könnerschaft des Make-up-Teams. Selbst bei den subtileren Gewaltdarstellungen eines Michael Haneke ist man sich der Professionalität aller Beteiligten bewusst. Dagegen ist Pier Paolo Pasolinis Die 120 Tage von Sodom, der nun wieder ins Kino kommt, ein Film, für dessen Mitwirkende man sich einen Therapeuten wünscht (Central, Lichtblick, Neue Kant Kinos). Der Film vermittelt einen Selbstekel, der sich aufs Publikum überträgt. Besonders tun einem die acht Mädchen und acht Jungen leid, die auf ein Schloss verschleppt werden, nackt auf einem kalten Marmorboden hocken und sich obszöne Geschichten anhören müssen, bevor sie verstümmelt werden – die Laiendarsteller müssen den Schock fürs Leben gehabt haben.

Inzwischen ist ein „Making of“ aufgetaucht, aus dem hervorgeht, dass die Jugendlichen am Set herumgealbert haben und Pasolini sie ermahnen musste, ängstliche Gesichter aufzusetzen. Warum wirkt der Film trotzdem so authentisch? Es liegt an Pasolinis klinischem Blick. Es gibt keine reißerischen Momente, keine hektischen Schnitte oder pulsierende Musik. Nichts wirkt inszeniert oder stilisiert. Musik kommt ausschließlich aus dem Radio oder vom Grammofon. Ein gemütlicher Foxtrott steht am Anfang und am Ende. Pasolini verstand seinen im faschistischen Italien angesiedelten Film als Kritik an der modernen Konsumgesellschaft, aber das vergessen wir lieber. Der Film hat keine eindeutige These, das erklärt seine Größe und seine Zeitlosigkeit. Und er liefert keine Antworten, das erklärt seine andauernde deprimierende Wirkung. Es geht ganz allgemein um Täter- und Opferschaft. Die Schurken sind keine amoklaufenden Psychopathen, sondern kultivierte Intellektuelle, die sich auf die Vernunft berufen. Das verschlägt einem die Sprache.

Zur gleichen Zeit, im Sommer 1975, entstand Derek Jarmans Langfilmdebüt Sebastiane (Eiszeit, Xenon), auch derzeit als Wiederaufführung zu sehen. Jarman, den man als radikalen Schwulenaktivisten kennt, lieferte hier noch eine verspielte, frivole Fingerübung ab. Das Drama um den Soldaten Sebastian, der sich seinem Vorgesetzten sexuell verweigert und dafür hingerichtet wird, ist in erster Linie ein Vorwand, nackte Männerkörper zu präsentieren. Filme wie dieser liefen normalerweise in geschlossenen Vorstellungen für Eingeweihte. Jarman schaffte es, „Sebastiane“ auf dem Filmfestival von Locarno unterzubringen. Sein Trick: Es wurde durchweg Latein gesprochen. Somit handelte es sich nicht um Pornografie, sondern um Kunst.

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