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CITY Lights: Kies und Kohle

Wenn eine literarische Vorlage zu oft benutzt worden ist, kann es passieren, dass die Benutzer irgendwann nichts mehr von der Vorlage wissen. So ist es Guy de Maupassants Novelle „Boule de suif“ („Fettklößchen“) ergangen.

Wenn eine literarische Vorlage zu oft benutzt worden ist, kann es passieren, dass die Benutzer irgendwann nichts mehr von der Vorlage wissen. So ist es Guy de Maupassants Novelle „Boule de suif“ („Fettklößchen“) ergangen. Die Geschichte einer Reisegruppe, die während des deutsch-französischen Krieges Richtung England flieht, diente inoffiziell als Vorlage für John Fords Westernklassiker „Stagecoach“. Der historische Hintergrund ließ sich ebenso leicht auswechseln wie das Transportmittel. Der Ex-Reporter und Drehbuchautor Will Tremper verlegte das Geschehen in einen US-Militärzug, der auf der DDR-Transitstrecke von einem Flüchtling bestiegen wird. In Verspätung in Marienborn (1963) geht es um die Reaktionen der Fahrgäste auf den Mann, der sie in Schwierigkeiten gebracht hat. Die meisten wollen, dass der Eindringling ausgeliefert wird, damit der Zug weiterfährt (Sonntag, Zeughauskino). Zu seiner Entstehungszeit galt der Film als Kalter-Krieg-Propaganda. Er war nicht nur von nationalem Interesse: Produzenten aus Frankreich und Italien beteiligten sich an der Finanzierung, José Ferrer verkörperte einen zynischen Journalisten, eine weitere Hauptrolle ging an Sean Flynn, den Sohn des legendären Errol.

Die wirksamste Propaganda ist immer noch die unbewusste: Schwarzer Kies (1961), der unpopulärste Film Helmut Käutners, zeichnet ein hässliches Bild von der Bundesrepublik, Kameramann Heinz Pehlke liefert eher Schwarz-Grau- als Schwarz-Weiß-Kontraste (Freitag, Zeughauskino). Dennoch macht der Film deutlich, was in der DDR nicht möglich war: schonungslose Kritik am eigenen System. Der Film spielt in der Nähe eines US-Militärflugplatzes im Hunsrück. Alle Personen sind geldgierig, selbst die Guten, der Lkw-Fahrer Helmut Wildt und seine Ex-Freundin Ingmar Zeisberg (im wahren Leben die Frau von Albert Speer Junior). Unter den Nebenfiguren: ein Nazi, der einen jüdischen Kneipier beschimpft. Das brachte Käutner eine Anzeige durch den Zentralrat der Juden ein.

In den sechziger Jahren sind die Moralisten durch die Hedonisten abgelöst worden. Cannabis – Engel der Gewalt (1969), von Pierre Koralnik inszeniert, ist ein wüstes Sex & Crime-Drama: Serge Gainsbourg spielt einen Auftragskiller namens Serge und Jane Birkin eine junge Frau namens Jane (Dienstag und Mittwoch, White Trash Fast Food). Schund, zweifellos. Aber Sechziger-Jahre-Schund. Und das Paar Gainsbourg-Birkin gehörte zu den großen Originalen jener Zeit.

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