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Das Kinojahr: Deutschland ’09

Zwanzigstes Jahrhundert und kein Ende: Geschichte ist stark in diesem Jahr, Preise gibt’s dafür zuhauf. Und die Zuschauer? Gucken noch lieber Komödien.

A wie Avatar

Schöne neue Welt oder Alles schon mal dagewesen, technische Spielerei oder Revolution des Sehens: An „Avatar“, der mit 2,3 Millionen Besuchern binnen zwei Wochen locker auch starke Konkurrenten wie „Wo die Wilden Kerle wohnen“, „Küss den Frosch“ oder „Disneys Weihnachtsgeschichte“ überholt hat, entscheidet sich vielleicht die Frage nach der Zukunft des Kinos. James Camerons psychedelische Gegenweltvision, die mit unglaublichem finanziellen und technischen Aufwand hergestellt wurde, ist sicher ein Sonderfall, wie auch „Titanic“ einer war: Mit Cameron ist ein Tüftler am Werk, ein Maniac, ein letzter großer Kinovisionär. Aber ist der immense Aufwand, mit dem im 3 D-Verfahren Mensch und Tier, Dschungel und Weltall animiert werden, nicht nur der letzte Aufschrei, bevor die Kinobetreiber vor dem weltweiten Heimkinotrend kapitulieren? Der verzweifelte Versuch, noch einmal jenes unverwechselbare Kinoerlebnis zu erschaffen, das ansonsten in der DVD-mäßigen Couchpotatovereinzelung verloren zu gehen droht? Überdies: Das aufwendige Verfahren werden sich auch in Zukunft ohnehin nur wenige Filme leisten können. Und doch wird 2009 das Jahr bleiben, in dem mit „Oben“, „Disneys Weihnachtsgeschichte“, „Küss den Frosch“, „Ice Age 3“ und „Avatar“ das 3D-Kino nach langer Inkubationszeit mit Macht auf den Kinoplan trat.

H wie History

Doch vor der Zukunft kommt die Vergangenheit. Das 20. Jahrhundert, speziell in der deutschen Geschichte, wurde im Kino erbittert verhandelt wie lange nicht mehr. Es begann mit dem Streit um „Operation Walküre“, Bryan Singers an Originalschauplätzen gedrehtem Widerstandsdrama mit Tom Cruise in der Hauptrolle. Darf ein Scientologymitglied Stauffenberg spielen, und das noch an den „heiligen“ Orten des Widerstands wie dem Bendlerblock? Darüber hat sich die deutsche Öffentlichkeit wochenlang erregt. Herausgekommen ist ein biederer, gar nicht mal schlechter Schulfilm, dessen nicht ganz unwichtiger Nebeneffekt es sein dürfte, den deutschen Widerstand in den USA bekannter gemacht zu haben. Ebenfalls eher brav ging Florian Gallenberger mit „John Rabe“ ans Werk. Der Film, der mit dem deutschen Unternehmer John Rabe, der in Nanking Hunderttausende Chinesen vor einem Massaker durch die Japaner rettet, eine nicht unproblematische Widerstandsfigur aus der Vergessenheit holt, blieb ästhetisch und erzählerisch arg dem Fernsehformat verhaftet, samt tränendrüsiger Liebesgeschichte mit Daniel Brühl.

Da war Quentin Tarantino mit seinen „Inglourious Basterds“ eindeutig von anderem Kaliber. Wie er mit den Mitteln des Films den Geistern der Geschichte selbstbewusst Paroli bietet und Hitler samt seiner Schurkentruppe zur Hölle schickt – das ist ein Triumph des Kinos über die Wirklichkeit, wie man ihn seit Lubitsch oder Chaplin nicht mehr gesehen hat – ohne Angst vor schmutzigen Händen und mit einer Chuzpe, die ihresgleichen sucht. Kein Wunder, dass die deutsche Top-Schauspielerriege, von Christoph Waltz bis Til Schweiger, von August Diehl bis Daniel Brühl, sich darum gerissen hat, mit von der Partie zu sein. Nehmen wir noch Michael Hanekes „Das weiße Band“ hinzu, diese bestechende, beklemmende Kinderdorfgeschichte kurz vor dem Ersten Weltkrieg, in deren schwarzer Pädagogik und schwelender Bosheit manche schon den aufkommenden Nationalsozialismus zu ahnen meinten, so bleibt als Resultat, dass das Kino derzeit gewagtere Thesen, anregendere, erregendere Diskussionsstoffe zu unseren Geschichtstraumata zu bieten hat als andere Künste und Wissenschaften. Dass Bernd Eichinger zum Thema ’68 und RAF mit dem „Baader Meinhof Komplex“ nur eine gewaltverherrlichende Diashow mit nachgestellten Medienbildern zustande brachte – das ist die eher bittere Pointe. Aber es gab ja noch „Es kommt der Tag“, „Schattenwelt“, und vor allem „Die Anwälte“ ...

K wie Komödie

Aber ja, auch gelacht darf wieder werden. Nicht nur in Fatih Akins schwungvollem Neo-Heimatfilm „Soul Kitchen“, der über Weihnachten für ausverkaufte Kinos sorgte und sich in den kalten Januarwochen zum Publikumsliebling auswachsen dürfte. Auch Til Schweiger legt mit „Zweiohrküken“, wie gewohnt mit galligem Medienbashing, noch einmal kräftig nach und toppt den Erfolg von „Keinohrhasen“ mit rund drei Millionen Zuschauern seit Kinostart Anfang Dezember. Und auch sonst gab es, von „Männerherzen“ bis „Männersache“, von „Wickie“ bis zu „Maria, ihm schmeckt’s nicht“ Lachsalven allerorten.

N wie Neumann

Vergangenheit und Zukunft: Der Neue ist der Alte. Dass Bernd Neumann auch unter Schwarz-Gelb Kulturstaatsminister bleibt, dürfte zumindest die Kinobranche freuen. Gilt der Bremer CDU-Politiker doch als erklärter Kinofan, der, vom noch bis 2012 laufenden Deutschen Filmförderfonds bis hin zur digitalen Aufrüstung der Kinos, immer wieder Millionen für den Film locker macht. Nur mit der Überarbeitung der Zwangsabgabe an die Filmförderanstalt hat er sich eine blutige Nase geholt – die Kinobetreiber verweigern die Einzahlung, solange die Fernsehanstalten nicht ebenfalls gesetzlich dazu gezwungen werden. Das entsprechende Filmfördergesetz wurde im Frühjahr in Leipzig gekippt. Da muss selbst der Gremienfachmann Neumann nun nachsitzen.

P wie Preise

Es war, auch an der Auszeichnungsfront, ein gutes Jahr für den deutschen Film. Der Silberne Bär für Birgit Minichmayr und der Große Preis der Berlinale-Jury für Maren Ades so vertrackte wie anrührende Beziehungsstudie „Alle Anderen“ setzen die mit Nina Hoss und Sandra Hüller begründete Serie fort: Berlinale, deine deutschen Schauspielerinnen ... Es folgte die Goldene Palme in Cannes für Michael Hanekes deutsche Kindergeschichte „Das weiße Band“, die Mitte Dezember auch der Gewinner beim Europäischen Filmpreis in Bochum war und mit großen Schritten auf einen Oscar-Gewinn zueilt – gibt es eine schönere Bestätigung für anspruchsvolles, sperrig-schönes Kunstkino? Verglichen damit war der Deutsche Filmpreis für den auch an der Kinokasse enttäuschenden „John Rabe“ schnell vergessen. Und der Jury-Preis in Venedig für Fatih Akins so gar nicht kunstkinomäßige Hamburg-Komödie „Soul Kitchen“? Beweist, dass der richtige Groove auch international als erfrischend wahrgenommen wird.

Z wie Zahlen

Sie könnten schlechter sein. Die Krise, allerorts beschworen, hat den Kinos nicht viel anhaben können. Rund 140 Millionen Zuschauer und über 881 Millionen Euro Umsatz vermeldeten die deutschen Kinos, ein deutliches Plus gegenüber 2008 – die Summen waren zum Jahresende dank „Avatar“, „Zweiohrküken“ und „Soul Kitchen“ noch einmal kräftig geklettert. Dazu ein Zuschauerzuwachs von 13,6 Prozent. Auch der Marktanteil der deutschen Filme liegt, dank „Wickie“, „Die Päpstin“ und „Zweiohrküken“, mit knapp 26 Prozent noch einmal deutlich über dem Vorjahr. Nur den Kinos nutzt das offenbar nicht viel: Dass die Zahl der Ortschaften mit mindestens einem Kino mit 985 erstmals unter die Tausender-Grenze sank, ist eine bittere Entwicklung, die vor allem kleine Spielstätten trifft. Da kann auch ein Neustart wie die Berliner „Astor Filmlounge“, die seit einem Jahr auf einen Mix aus Luxus und Lebenskunst setzt, nur bedingt trösten. Alles super im deutschen Film – nur um die Kinos muss man sich sorgen. Höchste Zeit, dass die Berlinale 2010 mit ihrer Initiative „Kino im Kiez“ genau jene verdienstvollen Kleinkinos stärkt, von denen ein Großteil unserer Filmerfolge lebt. Damit zur Vergangenheit auch eine Zukunft kommt.

Christina Tilmann

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