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© Kitty Kleist-Heinrich

Dokumentarfilm: 24 Stunden durchgedreht

Ein ganzer Tag am Schlesischen Tor: Zwei Regisseurinnen haben einen Berliner Dokumentarfilm nach großem Vorbild gedreht - und mussten sich dabei immer wieder fragen: Wie bringt man einen Menschen dazu, aus seinem Leben zu erzählen?

Das Leben selbst sollte Regie führen in ihrem Film, so hatten sie es entschieden, nicht gerechnet hatten sie damit, dass das Leben ihrem Film prompt die Liebesszene rauben würde. Sie war schon im Kasten – ein Paar vorm U-Bahnhof Schlesisches Tor, wie hineingesetzt ins Getümmel, versunken in seinen Kuss. Bis der Mann die Kamera entdeckte. Sofort ausmachen, rief er, wie können Sie nur! Und gestand dann, dass er die inniglich Geküsste aus dem Tangokurs kenne, es zu Hause aber eine andere gebe, die ahnungslos bleiben müsse.

Und so wird der leinwandtaugliche Kuss nicht zu sehen sein, wenn der Dokumentarfilm „24 Stunden Schlesisches Tor“ am 29. Oktober Premiere im Moviemento hat. Die Regisseurinnen Eva Lia Reinegger, 35, und Anna de Paoli, 29, haben auf ihn verzichtet, schweren Herzens, das Leben hat nun einmal seine Notwendig- und mitunter auch Heimlichkeiten. Dafür zeigen sie einen Müllmann, der von seinen Schlittenhunden träumt, einen Barmann, der zum Zwecke meditativer Versenkung saubere Straßen fegte – Leben, wie es sich am Schlesischen Tor verdichtet und innerhalb von 24 Stunden verrinnt.

Ein ähnliches Filmexperiment hat schon mal jemand mit großem Namen gemacht: Louis Malle, Regisseur von „Fahrstuhl zum Schafott“, filmte 1972 für den Film „Place de la Republique“ Passanten zwischen der Rue de Temple und dem Boulevard Beaumarchais in Paris. Diese Dokumentation nahmen sich Reinegger und de Paoli, die sich an der Berliner Filmhochschule kennengelernt haben, zum Vorbild. Weil sie sich auf Malles Arbeit beziehen, handelt „24 Stunden Schlesisches Tor“ nicht nur von einem Ort in Berlin, sondern ist auch ein Film übers Filmemachen im Wandel der Zeit.

Es war im Juni 2007 um acht Uhr morgens, Eva Lia Reinegger und Anna de Paoli hatten zwei Stunden zuvor mit den Drehs begonnen, da gab es die erste große Krise. Die Gespräche mit den Passanten kamen nicht so in Gang, wie sie es aus dem Malle-Film kannten. „Vielleicht fragen wir zu viel, vielleicht stellen wir die falschen Fragen“, sagte de Paoli zu Reinegger. Dabei hatten sie sich die Fragen überlegt, beide hatten ihre Themen, Migration und Identität für Reinegger, Freundschaft und Liebe für de Paoli. Aber wie bringt man, wenn es drauf ankommt, einen Menschen dazu, aus seinem Leben zu erzählen?

Im Zweifel gar nicht. „24 Stunden Schlesisches Tor“ lebt vom Ungesagten und von Bildern, welche die Worte Lügen strafen. Teils ist das wunderbar komisch, teils tut es weh. Da ist der Alte, der zeternd ein Vorurteil nach dem anderen über Türken ausspuckt, und als er aus dem Bild verschwindet, wird eine Bank sichtbar, darauf türkische Kinder, ordentlich aufgereiht sitzen sie da und schauen ihm stumm und erschrocken nach. Oder das Mädchen, das nachts an der Imbissbude steht, im schwarzen Trägerkleid, wie auf dem Weg zum nächsten Club. Doch auf die Frage, was sie mache, antwortet sie: „Zur Zeit bin ich Mama“ und deutet die traurige Geschichte dahinter nur an: „Ich bin nicht so fürs Abtreiben.“

Auch Reinegger hat schon an dieser Bude gestanden. Mehrere Jahre lang hat die gebürtige Karlsruherin am Schlesischen Tor gewohnt, ist von hier aus jeden Tag zur Deutschen Film- und Fernsehakademie am Potsdamer Platz gefahren. Wer dort studiert, kann nicht anders, als seine Umgebung 24 Stunden am Tag auf Filmtauglichkeit zu untersuchen. Und so schlug Reinegger in einem Seminar mit dem Titel „Dokufiction“ auch eine 24-Stunden-Beobachtung des Schlesischen Tores im Malle-Stil vor, ihre Kommilitonin Anna de Paoli, gebürtige Neuköllnerin und also vertraut mit diesem Ort, schlug sogleich ein: Das machen wir. Mit einem Budget von 3000 Euro, bereitgestellt von der Uni, drehten sie den Film.

Ein Seminar mit dem Titel „Dokufiction“ hätte es zu Malles Zeit wohl nicht gegeben. Damals erprobte man lieber das rein Dokumentarische, schließlich konnte man sich mit den neuen handlichen 16-mm-Kameras mit einem Mal mitten ins Leben stellen, oft zur Verwunderung der Menschen: „Für einen Film brauchen Sie doch Schauspieler“, merkt eine ältere Dame in „Place de la Republique“ streng an und wird dann, als sie über die Tücken des Lebens jenseits der 60 spricht, zum perfekten Ersatz.

Überhaupt holen alle Pariser im Gegensatz zu den Menschen im Berliner Film weit aus, es scheint, als war eine Kamera in den 70ern noch ein Ereignis. „Filme mich!“ ruft einer Malle aus dem Off zu, die Perückenverkäuferin gibt Tipps, welche Kuriositäten der Herr Regisseur noch filmen könne, und ein Mädchen schnappt sich selbst das Filmequipment und läuft los. „Was denken Sie über Ihr Sexleben, Monsieur“, fragt sie einen, und der geht nicht etwa weiter angesichts dieser impertinenten Frage, sondern antwortet, als sei eine Kamera eine Instanz, die nicht ignoriert werden kann. Auch sie, sagt Reinegger, hätten Kamera und Mikro gern fortgegeben. Nur wollte sie keiner haben. „Das Erstaunlichste war, was die Menschen für Medienprofis waren“, sagt de Paoli. Und je mehr einer zum Profi wird, desto geringer ist auch seine Neugier.

Nachdem Reinegger und de Paoli 24 Stunden gedreht hatten, arbeiteten sie ein Jahr lang am Material, und als sie den dunklen Schneideraum wieder verließen, kehrten sie zurück zum Schlesischen Tor. „Hey, weißt du noch“, sprachen sie einen ihrer Protagonisten voller Überschwang an, doch er erinnerte sich nicht. „Für uns war er total vertraut“, sagt Anna de Paoli. „Für ihn waren es fünf Minuten seines Lebens.“ Dass sie sich mehr für ihre Protagonisten interessiert hätten als umgekehrt, sagt sie, damit müssten sie wohl leben.

„24 Stunden Schlesisches Tor“ läuft ab 29. Oktober im Moviemento als Teil der Reihe „Kreuzkölln“.

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