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Dokumentarfilm: Wir sind Zeit

Die deutsch-tschechische Sammeldoku „Breathless“.

Immer muss erst etwas passieren, damit der Mensch innehält. Jan Peters und Marie-Catherine Theiler zum Beispiel werden mit ihrem Wagen aus der Kurve getragen, und für diesen Moment, meinen sie hernach, hätten sie die Zeit nicht mehr gespürt. Der Filmemacher und angehende Vater Peters stellt daraufhin kuriose Überlegungen an, wie er die Zeit, wenn man ihr schon nicht entfliehen kann, besser nutzen könnte. Das Nebensächliche von den großen Lebensaufgaben trennen oder die Woche nach Rubriken aufteilen: einen Tag für den Haushalt, einen anderen für kreative Ideen, so müsste es gehen, denkt Peters.

„Time’s Up“, der kurze Film des Regieduos, wurde der witzige Höhepunkt in der eigentlich aus fünf, in der Kinoversion nur aus vier selbstständigen Arbeiten zusammengefügten deutsch-tschechischen Dokumentarfilm-Anthologie „Breathless – Dominance of the Moment“. Die Ideengeber waren das Dokfestival Leipzig und das Institut für Dokumentarfilm in Prag und mit ihnen das länderübergreifende Kulturprojekt Zipp. Das Thema konnte kaum allgemeiner sein: die Zeit.

Wie Kunst versucht, die menschlichen Zeitbegriffe zu sprengen, wollte die in Rumänien geborene, seit ihrem elften Lebensjahr in Deutschland lebende Autorin Anca Miruna Lazarescu in Halberstadt ergründen. In der dortigen Klosterkirche Sankt Andreas erklingt bis zum Jahr 2640 eine Orgelkomposition von John Cage, für die niemandes Lebenszeit reichen wird, auch nicht die der rührigen Mitglieder des Vereins, die sich zum alle paar Jahre fälligen Wechsel des einzigen Tones eingefunden haben. „Wir sind Zeit“, lautet das tiefsinnige Resümee ihres philosophischen Disputs, den die Regisseurin mit spürbarem Behagen an absurden Szenen à la Tati geistesgegenwärtig dokumentiert: „Es wird einmal gewesen sein“, endlich kommt das Futur 2 mal zur richtigen Anwendung.

Einen anderen Ratschlag, einem durchaus nichtigen Zeitverlauf einen Sinn abzunötigen, übermittelt Jan Gogola, indem er das penible Tagebuch einer böhmischen Hausfrau nachspielen lässt. Viele Jahre hindurch hat Alena Nemcová aufgeschrieben, was sie von Morgen bis Abend in ihrem behaglich eingerichteten Heim in einem Vorort von Prag alles gemacht hat: putzen, waschen, kochen, einkaufen und mal eine Fahrt zum Wenzelsplatz, frei nach dem Motto und Filmtitel „I Love My Boring Life“.

Von dem filmischen Globetrotter Rainer Komers war dagegen eher wenig Humor zu erwarten. Sein Kaleidoskop einer ausgepowerten Industrieregion in Amerika, „Milltown, Montana“, zeigt in kurzen, hart gegeneinandergeschnittenen Bildern die Übriggebliebenen des wirtschaftlichen Niedergangs: Rinderzüchter, Fallensteller, Golfspieler und vor allem Kneipengänger, die mit ihrer Zeit nicht viel anfangen können. Niemand ist frei genug, sich von der Macht der Umstände zu befreien, es sei denn, er ließe sich wie Jan Peters einmal aus der Kurve tragen.

Nur im fsk am Oranienplatz

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