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Der fremde Sohn

© Promo

Drama: Allein mit der Wahrheit

In Clint Eastwoods „Der fremde Sohn“ beeindruckt Angelina Jolie als verzweifeltes Muttertier.

Sie hat keine Chance. Von wegen moderne Frau in den Roaring Twenties. Zwar managt die selbstbewusste Telefonistin Christine Collins ihr Leben als alleinerziehende Mutter, kurvt auf Rollschuhen flott durch die Telefonzentrale, hat gar Aussichten auf eine Beförderung zur Chefin, aber kaum geht etwas schief, wird sie jemandem lästig, heißt es: hysterisch. Unzurechnungsfähig. Vergnügungssüchtig. Verantwortungslos. Rationalen Argumenten nicht zugänglich. Eben nur eine Frau. Und ab in die Psychiatrie.

Es ist ein finsteres Stück amerikanische Polizei- und Justizgeschichte, das Clint Eastwood in „Der fremde Sohn“ nach wahren Vorbildern erzählt. Ein Sohn wird entführt, ein falscher zurückgebracht, die Polizei hat einen Fehler gemacht und trachtet nun mit aller Einschüchterung und Gewalt danach, das zu vertuschen. Und gegen den ganzen Apparat aus korrupten Polizisten, zynischen Polizeichefs, publicitygierigem Bürgermeister und sensationsgierigen Medien steht: eine Frau, ganz allein.

Was für ein Stoff für Eastwood, der seine Vorliebe für mutige Einzelgänger in immer neuen Anläufen durchspielt. „Million Dollar Baby“, das unübertroffene Meisterwerk um eine spätberufene Boxerin (Hilary Swank) und ihren unwilligen Trainer (Eastwood selbst), liegt vier Jahre zurück, der nächste Film, „Gran Torino“, über einen verbitterten Koreakrieg-Veteranen, der zum Helden mutiert (die Rolle spielt erneut Eastwood selbst), startet nächsten Monat und gilt als Kandidat für die Oscar-Verleihung.

„Der fremde Sohn“ (im Original „Changeling“, Wechselbalg) stellt der um ihr Kind kämpfenden Mutter einzig einen Priester (John Malkovich) an die Seite, der den Kampf gegen die L.A.P.D. zur Glaubenssache gemacht hat. Auch das eine Konstante: Eastwoods Geschichten von Opfergedanken und Fanatismus, Wahrheitssuche und Glaubenszweifeln sind auch immer Auseinandersetzungen mit dem Christentum, alttestamentarisch, altmodisch, und doch ein gültiger Kommentar zum heutigen Amerika.

Vor allem aber ist es eine One-Woman-Show. Angelina Jolie hat sich die Rolle der Christine Collins gewünscht, und die Leinwand scheint zu beben vor der Energie, mit der sie sich in diese Rolle wirft. Zugegeben: Vielleicht gibt es etwas zu häufig Großaufnahmen mit tränenvollen Augen und bebenden Lippen, und die Musik dröhnt dazu fürchterlich, aber die Wandlung der selbstbewussten emanzipierten Frau zum kämpferischen Muttertier macht die erste Hälfte des Films zum atemberaubenden Erlebnis. Bleibt das Dilemma: Je verzweifelter, je emotionaler und einsamer sie agiert, desto mehr scheint sie die männlich-chauvinistischen Vorurteile zu bestätigen. Sind es doch nur Mutterinstinkte, die sie antreiben? Hat die Polizei recht, die sie für Argumente nicht zugänglich hält? Und andererseits: Was für eine absurde Vorstellung, mit einer Mutter darüber rechten zu wollen, ob das zurückgebrachte Kind – das anders aussieht, kleiner ist, und unveränderbare Merkmale wie eine Zahnlücke nicht hat – wirklich der eigene Sohn ist?

Es ist eine groteske Geschichte um einen Verfahrensfehler, der zur Machtprobe wird, und es ist eine Lektion in perfider Unterdrückungslogik. Im Mittelpunkt: Eine übel beleumundete Behörde, die einen Ermittlungsfehler nach dem anderen gemacht hat und die Stadt mit Korruption und Gewalt im Griff hält. Dazu eine Psychiatrie, die sich zum Erfüllungsgehilfen der Polizei degradiert und Frauen ohne Gerichtsverfahren in die Anstalt bringt. Und eine Öffentlichkeit, die erst langsam den Widerstand gegen die Staatsgewalt erlernt: „Wenn Sie die Wahl hätten, einem Polizisten zu glauben oder einer als hysterisch erklärten Frau, wem würden Sie glauben?“, fragt eine Schicksalsgenossin in der Psychiatrie, als sie Christine ihre hoffnungslose Lage klarmachen möchte.

Ein leidenschaftliches Plädoyer gegen Obrigkeit und Polizeistaat – damit hätte der Film einen würdigen Abschluss gefunden. Doch: „Die Wirklichkeit ist manchmal seltsamer als die Fiktion“, gibt Eastwood zu. Was für eine monströse Geschichte hinter dem verschwundenen Kind steckt, und wie die Ungewisheit Christine bis zu ihrem Tod 1935 nicht loslassen soll, das entfaltet sich über 143 Minuten in langatmigen, nicht immer plausiblen Schleifen und verliert im Verlauf der Geschichte seinen politischen Fokus immer mehr. Das erinnert an Erick Zoncas „Julia“ im vergangenen Jahr: Eine starke Hauptfigur, die im Schnelldurchlauf durch allzu viele Filmgenres gejagt und damit dramaturgisch zur Strecke gebracht wird. Ein wenig mehr Fiktion hätte durchaus gut getan. Im Interesse der Wahrhaftigkeit.

In 14 Berliner Kinos, OV im Cinestar SonyCenter, Odeon und Hackesche Höfe

Christina Tilmann

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