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Elena Senft: Ich bin vom Kino traumatisiert

Elena Senft: Ich bin kein guter Kinogänger. Ich bin eine von denen, die mit allen Filmen warten, bis es sie auf DVD gibt. Das erspart mir lästige Diskussionen darüber, ob man sich den Film in Originalsprache angucken muss, weil der auf Kisuaheli nun mal viel authentischer sei. Vor allem aber erspart es mir essende Menschen.

Ich finde, Menschen sollten zu Hause essen und keinesfalls im Kino. Na gut, wenn jemand direkt von der Arbeit ins Kino hetzt, darf er sich eine bereits morgens zu Hause in eine Tupperbox gelegte, mit geruchsneutralem Aufstrich oder jungem Gouda versehene Stulle mitbringen.

Ich sitze im Kino meist neben den Leuten, die Nachos mit Käsesauce essen. Diese Menschen lassen sich in zwei Kategorien einteilen: die Selbstbewussten, die der Meinung sind, dass Nahrungsmittel, die im Kinovorraum verkauft werden, automatisch auch im Kinosaal verzehrt werden dürfen. In diesem Fall ist das Leiden des Sitznachbars immerhin kurz, weil der Nacho-Eimer bereits vor Spielfilmbeginn in der Werbung weggemampft und der kleine, krümelige Rest aus der Pappschachtel direkt in den Mund gegossen wird. Die andere Kategorie Nacho-Esser ist weitaus schlimmer, denn sie schämt sich selber für das laute Nahrungsmittel. Daher werden vorsichtig immer nur einzelne Nachos entnommen und in den Mund geschoben, in lauten Lachstellen des Films höchstens einmal zwei. Dazu kauen diese Leute in Zeitlupe, was zwar kein bisschen leiser ist, dafür die verschämten Kaugeräusche aber auf Spielfilmlänge ausdehnt.

Popcorn ist ein weiteres Problem, ein im normalen Alltag fast vollständig ausgestorbenes Lebensmittel. Menschen verspüren so gut wie nie den Wunsch nach Popcorn. Nur im Kino tun sie so, als wäre ein Film ohne Popcorn nicht auszuhalten. Diese Logik verhält sich ähnlich wie jene von Tomatensaft im Flugzeug. Spätestens bei der dritten Faust Popcorn steckt dem Essenden ein Maisspelzen im Hals, den er durch lautes, unappetitliches Räuspern erfolglos zu vertreiben versucht, bis der stets ganz in der Mitte sitzende Zuschauer sich an allen Leuten vorbeidrängeln muss, um eine Dosencola zu erwerben, die er anschließend mit Strohhalm schlürfend auf seinem Platz zu sich nimmt.

Einmal hat ein Mann vor mir einen Döner ausgepackt, ein Nahrungsmittel, das – ebenso wie hartgekochte Eier und Buletten – in geschlossenen Räumen verboten sein sollte. Ich freute mich, als sein Nebenmann einen Aufseher holte, der den Mann aufforderte, seinen Döner draußen zu essen. Der Mann trollte sich mit Knoblauchsauce im Mundwinkel. Er kam nicht wieder, ich hoffe aus Scham.

Ich musste nur ein einziges Mal vor Filmende das Kino verlassen, ausgerechnet bei meinem ersten Kinobesuch. Vielleicht rührt auch aus diesem traumatischen Kindheitserlebnis meine Neigung, Filme lieber auf DVD zu gucken: Mitte der Achtziger, ein Ku’damm-Kino. In der ersten Reihe sitzen mit Nackenstarre und Fanta meine Mutter, meine Schwester und ich. Der romantisch-melancholische Fantasy-Kassenschlager „Das letzte Einhorn“ neigt sich seinem Finale zu. Ich habe seit einer Viertelstunde nicht mehr geblinzelt. In dem Moment, in dem der wütende „rote Stier“ das traurige Zeichentrickeinhorn ins Meer treiben will, um es (wie vorher seine Artgenossen) ein für alle Mal auszulöschen, stößt meine Schwester mit weit aufgerissenen Augen einen so markerschütternden, langen Angstschrei aus, dass Mutter uns unter den pöbelnden Aufforderungen der übrigen Zuschauer an die Hand nimmt und das Kino verlässt. Überlebt das Einhorn? Und der Stier? Und kommen die anderen Einhörner zurück? Ich weiß bis heute nicht, wie der Film ausgeht.

Hier schreiben abwechselnd: Christine Lemke-Matwey, Elena Senft, Jens Mühling und Moritz Rinke.

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