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Berlinale 2009: Filmpremiere "The Reader"

© ddp

Film: Wege des Ruhms

Eine Rolle, die einsam macht: Kate Winslet hat als Hanna Schmitz in "Der Vorleser" wieder einmal gute Oscar-Chancen.

Ob sie heute Abend wieder dasteht, tränenüberströmt, Dankesworte stammelnd an Mann und Maus, Mutter, Kind und Kegel, Beleuchter, Maskenbildner, Agenten und Drehbuchautoren? Als Kate Winslet sich vor wenigen Wochen bei der Golden- Globe-Verleihung wort- und tränenreich für die Doppelauszeichnung für ihre Rollen in "Der Vorleser" und "Revolutionary Road" bedankte, versanken ihre britischen Landsleute vor Scham im Boden. Nichts von der kernigen Wortwahl, der Coolness, die die 1975 in Reading geborene Schauspielerin sonst gern pflegt, nichts von der sympathischen Ich-bindoch-kein-Star-Attitüde. Kate Winslet hatte die Nerven verloren. Entsprechend bissig die Kommentare danach.

Ja, der Oscar: Langsam wird es Zeit. Fünfmal schon war sie nominiert, für "Sinn und Sinnlichkeit", "Titanic", "Iris", "Vergiss mein nicht" und "Little Children", nie hat sie ihn bekommen. Um die Chancen zu erhöhen, hatte die Produktionsfirma von "Der Vorleser" versucht, sie dieses Mal - wie schon bei den Golden Globes und den Screen Actors Guild Awards - als Beste Nebendarstellerin nominieren zu lassen, dann wäre noch eine zweite Nominierung als Beste Hauptdarstellerin für "Revolutionary Road" drin gewesen. Die Academy of Motion Pictures hat anders entschieden. Fünf Mal insgesamt ist Stephen Daldrys Schlink-Verfilmung im Rennen, und Kate Winslet ist für ihre schmerzhaft intensive Verkörperung der ehemaligen KZ-Aufseherin Hanna Schmitz als Beste Hauptdarstellerin nominiert. Ihre - ebenso eindrucksvolle - Darstellung der April Wheeler in der Richard-Yates-Verfilmung "Revolutionary Road" wird nicht gewürdigt.

Kritiker beklagen Holocaust-Fixierung

Ja, die Oscars: Sie waren das Thema auch bei Kate Winslets Auftritt auf der Berlinale Anfang Februar. Selbst auf der Pressekonferenz greift irgendwann der Moderator ein und erinnert daran, dass es doch um den Film gehen solle: "Das ist hier keine Oscar-Pressekonferenz." Es hilft nichts. Dass sie in einer TV-Comedy-Sendung vor Jahren gesagt hat, sie müsse mal eine Rolle in einem Holocaust-Film spielen, dann bekäme sie auch den Oscar und dass sie nun mit ihrer Rolle im Post-Holocaust-Film "Der Vorleser" beste Chancen auf eine Trophäe hat, diese Geschichte wird Kate Winslet in so ziemlich jedem Interview unter die Nase gehalten. Auch US-Filmkritiker warfen der Academy of Motion Pictures eine Holocaust-Fixierung vor. Winslet trägt’s mit Fassung, auch beim zehnten Mal. "Ich hatte diese Episode ganz vergessen. Erst als wir bei den Vorbereitungen zu 'Der Vorleser' waren, kam jemand mit dem Band an, und ich dachte nur: O je, das werden die Journalisten bestimmt aufgreifen." Thema erledigt.

Okay, sprechen wir also über die Rollen, vor allem über Hanna Schmitz in der Verfilmung des Bernhard-Schlink-Romans - der Film, der auf der Berlinale außer Konkurrenz lief, kommt am Donnerstag in die Kinos. Kate Winslet spielt die ehemalige KZ-Wärterin, die in den trostlosen deutschen Nachkriegsjahren ein kurzes Glück mit einem 15-Jährigen erlebt. Jahre später trifft er sie vor Gericht wieder, als Angeklagte. Natürlich haben alle zunächst nach den Liebesszenen gefragt, wie es war, solche Szenen mit dem 18-jährigen David Kross zu spielen, nackt in der Badewanne und im Bett. Die beiden, die bei Pressekonferenzen und Interviews eine schöne Vertrautheit verbindet, haben das relativ entspannt abgeschmettert: "Es gehört zum Job dazu."

Und doch ist es diesmal mehr als ein Job. Zwischenzeitlich sollte Nicole Kidman die Hanna spielen. Winslet, die zuerst gefragt worden war, hatte abgelehnt, weil sie mitten im Dreh zu "Revolutionary Road" stand. Weil Nicole Kidman schwanger wurde, kam Regisseur Stephen Daldry auf die erste Besetzungsidee zurück. Es hatte sich also doch gelohnt, dass sich Kate Winslet immer noch Kassetten mit deutschen Dialekten anhörte, zur Vorbereitung auf eine Rolle, von der sie spürte, dass sie sie noch nicht abgeschrieben hatte - so wie sich Beziehungen nicht einfach beenden lassen.

Aus einer Familie von Theaterschauspielern

"Ich spreche so gern über diesen Film", schwärmt Kate Winslet dann beim morgentlichen Kurzinterview in Berlin und hört zwanzig Minuten lang nicht mehr zu reden auf. Darüber, wie beeindruckt sie von den Dreharbeiten in Görlitz war, von der Konzentration des gesamten Ensembles, von den ungünstigen Wetterbedingungen und davon, wie sehr ihnen die Besonderheit der Geschichte bewusst gewesen sei. "Da haben selbst Schauspieler vom Berliner Ensemble Rollen ohne Text übernommen, nur um dabei zu sein." Bei den Prozess-Szenen hätten die Techniker auf Getränkekisten gesessen und ganz still zugesehen, so sehr sei die Geschichte ihnen allen an die Nieren gegangen.

Man merkt, dass sie vom Theater kommt, aus einer Familie von Theaterschauspielern. Man merkt es an der Hochachtung gegenüber den Kollegen und an der Selbstkritik. Die gehört offenbar dazu. Die Prozess-Szenen seien "die größte Herausforderung in meiner Karriere", so Winslet. Diese Hanna sei eine Rolle, von der sich jeder, der das Buch gelesen hat, genaue Vorstellungen macht. "Alle waren davon überzeugt, dass nur sie genau wissen, wie diese Rolle gespielt werden soll", seufzt sie noch im Nachhinein. So dass sie, die eigentlich liebend gern endlos über Rollen und Konzepte am Set diskutiert, sich diesmal ganz zurückgezogen hat. "Da war eine innere Stimme, die mir sagte: Sei still, sag nichts, behalt es für dich." Eine Erfahrung, die sie sehr einsam machte.

Das Problem lässt sich so deutlich nur in Winslets unnachahmlich deftigem britischen Englisch formulieren: "How do you fucking humanize a SS-guard?" Der Schlüssel sei Hannas Analphabetismus gewesen, deshalb habe sie in New York Kurse für Analphabeten besucht. Kate Winslet hat dort Menschen zwischen 20 und 70 kennengelernt und bei allen diese große Scham gespürt. Nicht lesen können. Und wie wichtig es dann wird, Ordnung zu halten im Leben, pedantische Ordnung. Vieles, was der Rolle vorgeschrieben war, habe sie dort wiedererkannt. Das manische Stricken, denn Zahlen kann man als Analphabet ja wiedererkennen und Muster nachzählen, auch komplizierte Muster. Dass auch das Leben so einem Muster folgen soll, einem strengen, nachzählbaren Muster, diesen Kontrollwunsch hat sie auch in der Rolle der Hanna gespürt.

Die beherrschteste Performance ihrer Karriere

Deshalb also diese bockige Härte, die sprachlose Verschlossenheit, die Winslet in ihr Spiel legt. Nur in wenigen Momenten, bei der sommerlichen Radtour durch Deutschland oder den Vorlesestunden im Bett, gönnt sie ihrer Figur ein wenig Luft zum Atmen, zum Lieben, zum Glück. Gerade diese Schauspielerin, die so hemmungslos emotional sein kann, gibt hier die beherrschteste, zurückgenommenste Performance ihrer Karriere.

Kein Wunder, dass sie betont, wie sehr sie durch ihre Rollen immer noch wächst und lernt. Und dass jeder Gang zum Drehtag ein Gefühl sei wie als Kind kurz vor Weihnachten, diese Vorfreude, dieses Versprechen. Selbst ihr Ehemann, der Regisseur Sam Mendes, der mit ihr "Revolutionary Road" drehte, wundert sich immer, wie wenig Wert sie auf Publicity legt. Eiserne Regel: Zu Hause gibt es keine Magazine, keine Zeitschriften, sie liest keine Porträts oder Interviews. "Ich brauche das, um nicht verrückt zu werden."

Wer weiß, vielleicht geht heute Abend der Trubel erst richtig los und wird sich so bald nicht wieder legen. Kate Winslet, der pummelige Backfisch aus "Heavenly Creatures", die junge Liebende aus "Titanic", die sentimentale Marianne aus "Sinn und Sinnlichkeit", sie ist mit ihren zwei Rollen in "Der Vorleser" und "Revolutionary Road" erwachsen geworden. Eine schöne, kluge, selbstbewusste Frau auf der Höhe ihrer Kunst.

Wie schafft sie es, bei alldem auf der Erde zu bleiben, fragen wir sie am Ende des Interviews in Berlin. Draußen sind gefühlt zehn Grad Minus, doch Kate Winslet wollte das Fenster offen lassen während des Gesprächs und dreht sich nachdenklich eine Zigarette. Ihre Antwort: "I fucking don’t know, love!"

Christina Tilmann

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