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Hüzün. Auch Nuri Bilge Ceylans „Uzak“ von 2002 reflektiert die Stadt.

© Cinetext

Filmfest Istanbul: Die Stadt, das Labyrinth

Das Filmfest von Istanbul kämpft um die Kinos – und feiert die Bosporus-Stadt als Drehort.

Eines der ältesten Kinos in Europa befindet sich in Istanbul: Das „Emek“ verfügt über 875 Sitzplätze, Logen und Balkon und eine riesige Leinwand. In einem 1884 vollendeten prächtigen Gebäudekomplex im kosmopolitischen Stadtteil Beyoglu gelegen, wurde es 1924 eröffnet und war seither eines der wichtigsten Kulturzentren der Türkei und eins der wenigen unabhängigen Kinos im Land. Bis 2009 war das „Emek“ auch das Premierenkino des Istanbuler Filmfestivals. Nun ist es geschlossen.

Der gesamte Gründerzeit-Komplex an der berühmten Istiklal-Straße mit seinen Galerien, alteingesessenen Geschäften, Büros, Cafés und Restaurants soll entkernt und in eine Shopping Mall verwandelt, im vierten Stock ein kleines Kino, und anstelle des alten „Emek“ eine Zweigstelle von Madame Tussaud’s eröffnet werden – mit beidem kommt man nach Auffassung der arrogant auftretenden Investoren den Cineasten entgegen. Das seit 20 Jahren geplante Projekt wurde ausgerechnet in dem Jahr öffentlich, in dem Istanbul Kulturhauptstadt Europas ist.

Die Abschlussgala am Samstagabend gerät zur Protestkundgebung: Im Publikum werden Transparente entrollt, und Regisseure, Schauspieler und andere Filmschaffende geben ihrer Empörung lautstark Ausdruck; Semih Kaplanoglu, der jüngste Berlinale-Sieger, nennt das Projekt Vandalismus, der auch von Fatih Akin immer wieder besetzte Schauspieler Güven Kirac ruft zum Widerstand auf. Das Festival selbst sei in Gefahr, wenn nur noch die außerhalb des Zentrums gelegenen Multiplexketten zur Verfügung stehen. Es steht allerdings zu befürchten, dass die Entscheidung trotz der Einwände von Architekten und Denkmalschützern irreversibel ist: Wie überall sind auch in der Türkei ein paar Tausend Kulturschaffende unterlegen, wenn mit Regierungskreisen paktierende Investoren sich großen Profit versprechen.

Dass Istanbul eine Stadt ständigen Wandels ist, zeigte eine schöne Filmreihe des Festivals: Unter dem Titel „Istanbul Inside – Outside“ liefen Filme aus allen Dekaden der Filmgeschichte, die in Istanbul gedreht wurden. Angefangen bei den 1896 entstandenen dokumentarischen Aufnahmen vom Bosporus und vom Goldenen Horn der Gebrüder Lumière bis hin zu neuesten Filmen, zuletzt Nuri Bilge Ceylans elegische Stadtansichten in „Uzak“ und „Drei Affen“, präsentiert sich die Stadt stets als großartiger Drehort.

Am bekanntesten vielleicht ist der James-Bond-Thriller „From Russia With Love“ (1963) und natürlich „Topkapi“ (1964). Doch es geht auch anders. So inszenierte etwa Jess Franco 1964 trashigverschwiemelte Sex-Szenen im Rotlichtmilieu Beyoglus für die spanisch-deutsche Koproduktion „Vampyros Lesbos“. Joseph L. Mankiewicz jagte seinen Protagonisten James Mason im Spionagefilm „5 Fingers“ (1952) durch das Gassengewirr im historischen SultanahmetDistrikt. Seine Verfolger stellen ernüchtert fest: „In Istanbul hat keiner jemals irgendwen gefunden.“ Vielleicht deshalb eignet sich die Stadt besonders gut als Schauplatz fürs Spionage-Genre.

In Ömer Kavurs 1985 entstandenem Film „Körebe/Blindfold“ dagegen ist Beyoglu zum Slum verkommen. Die Gründerzeit-Prachtbauten gelten als Wohngebiet für die Ärmsten der Armen: Die Protagonistin des Films, Mutter eines entführten Kinds, muss finstere Treppenaufgänge passieren, um eine mit Zeitungen tapezierte Wohnung zu erreichen, in der das Wasser durch die Decke tropft.

Genau diese Wohngegenden sind jetzt das Zentrum des hippen, schicken Beyoglu. Die sorgfältig renovierten Häuser sind besonders bei Ausländern, die die Immobilienpreise in unerschwingliche Höhen getrieben haben, beliebt: großbürgerliche Altbauten mit hohen Decken, Holzfußböden und riesigen, hellen Zimmern, die häufig über eine spektakuläre Aussicht aufs Goldene Horn oder den Bosporus verfügen. In den 1980er Jahren dagegen wusste man mit der alten Bausubstanz nichts anzufangen, wie Ömer Kavurs Film zeigt. Seine Heldin, eine berufstätige Frau aus der Mittelschicht, wohnt in einem der damals neuen Hochhausviertel mit Parkanlagen und Spielplätzen, Supermarkt, Schule und Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr: Infrastruktur vom Reißbrett der Stadtplaner.

Ein Klassiker des türkischen Kinos und vielleicht der schönste Istanbul-Film aller Zeiten ist „Ah Güzel Istanbul/Beautiful Istanbul“ des Altmeisters Atif Yilmaz aus dem Jahr 1966. Ein alteingesessener Fotograf zeigt einer jungen Schauspielaspirantin aus der Provinz seine Stadt, vor deren historischen Bauten aus mehr als 1000 Jahren Design, Mode und Architektur der 1960er-Moderne wie Fremdkörper wirken . Heute weiß man, wie vergänglich sie im Gegensatz zu jenen waren.

Letzte Meldung und ein Erfolg aus Berliner Sicht: „Min Dit – Die Kinder von Diyarbakir“, Abschlussfilm des dffb-Studenten Miraz Bezar über eine kurdische Kindertragödie, gewann auf dem Istanbuler Festival drei Hauptpreise. Der Film kommt am Donnerstag in die deutschen Kinos (Rezension folgt).

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