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Parque Via Locarno

© Festival

Filmfest von Locarno: Düstere Sonne Zukunft

Von Nachbarn und Narren: Das 61. Filmfest von Locarno feiert den europäischen Autorenfilm. Dabei sind es die Außenseiter, die Filmneulinge, die dem Festival einigen schrägen Glanz verleihen.

Es ist nicht der Leopard, der jeden Abend knurrend über die Leinwand streicht, sondern ein kleiner Hund, der die Festivalbesucher in Aufregung versetzt. Der Corgi, ständiger Begleiter von Michel Houellebecq, ist so etwas wie der Ersatz-Star in jenen ersten Tagen des Filmfests von Locarno. Denn sein Herr gibt sich mal wieder als Phantom. Erscheint nicht zur Pressekonferenz, auch nicht zur Welturaufführung seines Regiedebüts „La possibilité d’une ile“, und wenn er schließlich samt Hund im Lokal sitzt, wirkt er so unauffällig in seinem Parka, dass man ihn glatt übersehen könnte.

Es hat Pech mit seinen Stars, das 61. Filmfest von Locarno: Anjelica Huston, die mit dem Excellence Award ausgezeichnet werden sollte, sagte ihre Teilnahme ab, Houellebecq macht sich rar, und Nanni Moretti, dem die Retrospektive gewidmet ist, geht abends lieber ins Bett, anstatt seinen Film „Palombella Rossa“ auf der Piazza vorzustellen. Nicolas Bideau, Leiter der Filmabteilung im Schweizer Bundesamt für Kultur und als Nachfolger für den 2009 nach nur vier Jahren aus dem Amt scheidenden, eher glücklosen Festivalleiter Frédéric Maire im Gespräch, gibt auf einer Podiumsdiskussion deutlich zu verstehen, dass etwas mehr roter Teppich in Locarno schon sein dürfte.

Dabei sind es die Außenseiter, die Filmneulinge, die dem Festival einigen schrägen Glanz verleihen. Im letzten Jahr hatte Anthony Hopkins mit „Slipstream“ eine wunderbar selbstironische Hollywood-Parodie vorgelegt. Dieses Jahr steht Europa an: Houellebecqs Filmdebüt „Die Möglichkeit einer Insel“ nach seinem gleichnamigen Roman ist eine delirierende Zukunftsfantasie, ein Blick in eine deprimierende Klon-Welt. Rettung kommt durch einen kleinen Hund (!), der den unglücklichen Neumenschen zurück in die Natur lockt. Ein Film, so misogyn wie unfreiwillig komisch, und doch einer, der die Fantasie auf die Leinwand zurückholt, wie ungeschickt auch immer.

Ähnlich opulent missglückt ist auch das Regiedebüt des italienischen Bestseller-Autors Alessandro Baricco („Seide“). In „Lezione 21“ will der Universitätsprofessor Mondrian Killroy beweisen, dass Beethovens 9. Sinfonie völlig überschätzt sei. Bemerkenswert unintelligente Studenten erinnern sich an seine legendäre Vorlesung, die Lektion 21, während in einer Parallelhandlung ein junger Musiklehrer im Winter 1824 an einem österreichischen See versucht, Dorfbewohnern Beethoven nahezubringen. Das Ergebnis: eine Abhandlung über Beethovens Lebensbedingungen – Baricco hat Musik studiert –, bebildert mit einem Panoptikum schräger Gestalten, halb Fantasy, halb Historienfilm, und am Ende ein dramatischer Tod im Schnee. Ein Albtraum von Film.

Verglichen mit diesen überhitzten Fantasieprodukten gibt sich der internationale Wettbewerb in diesem Jahr stark, aber betont nüchtern. Die volle Dosis Alltag aus allen Ecken Europas. In Frederico Bondis eindringlichem „Mar Nero“ raufen sich eine einsame italienische Rentnerin (Ilaria Occhini, die als beste Darstellerin geehrt wurde) und ihre überforderte rumänische Haushaltshilfe zusammen. Ähnliche Tristesse auch in Irland: In Lance Dalys „Kisses“ versuchen zwei Kids vergeblich, aus den Vororten von Dublin und vor der Gewalt im Elternhaus zu fliehen. „Market“ von Ben Hopkins, gedreht in der Türkei, zeigt den vergeblichen Versuch eines Klein-Dealers (ebenfalls preisgekrönt: Tayanc Ayaydin), seine Familie legal zu versorgen.

Alltagssorgen auch in Fernost: In „Feast of Villains“ wird ein chinesischer Arbeiter zum Organspender, um seinen kranken Vater zu versorgen, während in „Daytime Drinking“ junge Koreaner einen völlig verunglückten Wochenendausflug ans Meer unternehmen. Arbeitslosigkeit, Armut, überforderte Helden und kaum Perspektiven: Überall kämpft man die gleichen Kämpfe im Zeitalter von Globalisierung und Zukunftsangst.

Die Sonne der Zukunft versprach ein Film, der in der italienischen Presse für große Aufregung sorgte: „Il sol dell’avvenire“ porträtiert ehemalige Mitglieder der Roten Brigaden in Reggio Emilia. Inzwischen in Ehren ergraut, treffen sie sich für ein Wochenende, um in Erinnerungen zu schwelgen. Alle haben ihre Gefängnisstrafen abgesessen, keiner ist mehr politisch aktiv. Nüchtern und selbstkritisch rekapitulieren sie jene Zeit, in der es keine richtige Seite gab – was im Berlusconi-Italien von heute offenbar provozierend wirkt.

Die richtige Seite vertritt „Giu le mani“, eine brisante Dokumentation über den Eisenbahnerstreik im nahe gelegenen Bellinzona im März 2008. 400 Arbeiter kämpfen um ihr Werk, Danilo Catti begleitet sie mit der Kamera. Der Film endet mit dem Triumph eines ertrotzten runden Tisches – das Ergebnis steht jedoch noch aus.

Überhaupt sind die Dokumentarfilme wieder stark auf dem Festival, das sich mit seiner Vielzahl von Sektionen mit Titeln wie „Ici et Ailleurs“, „Play Forward“ oder „Open Doors“ eigentlich dem Kunst- und Autorenfilm verschrieben hat. Schwerpunkt von „Open Doors“ war diesmal Lateinamerika, in völlig überfüllten Vorstellungen. Enrique Riveros mexikanischer Wettbewerbsbeitrag „Parque Vía“ hatte Locarno gleich am ersten Tag einen fulminanten Auftakt beschert, völlig zu Recht wurde er am Ende mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet. Ein alter Hausmeister hütet eine Villa in Mexico City, man sieht ihm beim Staubwischen, Hemdenbügeln, Zähneputzen. Die Villa soll verkauft werden, sein Leben bricht zusammen. 90 Minuten ereignisloser Alltag, fast ohne Worte: beklemmendes, dringliches Kino.

Auf der Piazza Grande dagegen findet allabendlich wahllos großes Spektakel statt, das auch vor dem Wikinger-Epos „The Outlander“ oder Horrorfilmen wie „In drei Tagen bist du tot 2“ nicht zurückschreckt. Da war „Marcello Marcello“ von Denis Rabaglia schon besser: eine bonbonbunte Hommage an das italienische Kino der Fünfzigerjahre. Auch Karim Didis bitterem Drama „Khamsa“ um drei Freunde in den verwahrlosten Zigeunercamps von Marseille, oder Solveig Ansprachs schwarzer Island-Komödie „Back Soon“ um eine dealende Dichterin tat die große Leinwand spürbar gut.

Den Piazza-Rekord hält mit 7700 Zuschauern Philipp Stölzls Bergdrama „Nordwand“ (Tsp. vom 11. 8.), die überfüllteste Festivalveranstaltung galt jedoch einem Kurzfilm im nostalgischen Sechzigerjahre-Kino „Ex-Rex“. Nanni Moretti hatte für das Festival ein Quiz zusammengestellt: 40 Miniszenen aus den Filmen seines Lebens. Es gilt zu erraten, welchen Film der Regisseur nach 20 Minuten verlassen hat, welchen sein Sohn besonders doof fand, in welchem Film er von Anfang bis Ende durchgeheult hat und in welchen Horrorfilm er versehentlich geraten war, weil er die Kritik missverstanden hatte.

Das Quiz ist aberwitzig schwer: Die Autorin dieser Zeilen hat von den 40 Filmen gerade zehn erraten, Festivalchef Frédéric Maire dem Vernehmen nach keinen einzigen, der Festivalrekord liegt bei 23. Dennoch kann es für ein Filmfest kein schöneres Geschenk geben: Sage mir, welche Filme du liebst, und ich sage dir, wer du bist. Apropos Lieblingsszenen: Die Anfangssequenz von Morettis „Liebes Tagebuch“, in der der Regisseur mit der Vespa durch das menschenleere Rom fährt, ist einfach wunderbar. In einem Schaufensterplakat in Locarno haben sie ihm einen Leoparden auf den Gepäckträger gesetzt.

Christina Tilmann

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