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© Festival

Filmfestival: Cannes spricht deutsch

Sensation an der Croisette: Michael Hanekes "Das weiße Band" gewinnt die Goldene Palme.

Okay, „Das weiße Band“ ist eine internationale Koproduktion, mit Beteiligung Österreichs, Frankreichs und Italiens. Okay, Michael Haneke ist ein österreichischer Regisseur, dessen spät anhebender Welterfolg vor allem durch Cannes begründet wurde – beginnend 1997 mit „Funny Games“ – und der seitdem, zuletzt mit „Caché“, überwiegend französischsprachige Filme drehte. Zum neunten Mal war er nun Gast in Cannes, zum sechsten Mal im Wettbewerb.

Andererseits ist es sicher keine nationalistische Attitüde, sich an diesem subtropisch heißen Vorsommerabend in Cannes vor allem für Deutschland zu freuen. Denn „Das weiße Band“, der Gewinner der Goldenen Palme, wurde federführend von den Berliner X-Filmern produziert und komplett in Deutschland gedreht. Die Schauspieler sind überwiegend Deutsche - unter ihnen Burghart Klaußner, Steffi Kühnert, Josef Bierbichler, Gabriela Maria Schmeide, Susanne Lothar, Christian Friedel und Detlev Buck. Und hat nicht sogar der 67-jährige Regisseur als in München geborener Sohn des Schauspielers Fritz Haneke deutsche Wurzeln, bevor er in der österreichischen Heimat seiner Mutter aufwuchs, der Schauspielerin Beatrix von Degenschild?

In Zeiten wachsender internationaler Verflechtung der Filmproduktion mag derlei Hin- und Herrechnerei kurios anmuten - und doch: Eine Palme für einen in deutscher Sprache und mit sehr deutschem Thema gedrehten Film ist so überwältigend wie sensationell. Genau 30 Jahre ist es her, dass Volker Schlöndorff mit seiner in Deutsch, Polnisch und Russisch gedrehten Grass-Verfilmung „Die Blechtrommel“ in Cannes in gleicher Weise triumphierte – und mit einem Mal scheinen die vielen mageren Jahre vergessen, die der deutschsprachige Film an der Croisette seither erleben musste. Nein, das freut einfach. Und wie das freut!

Es ist eine dunkle „deutsche Kindergeschichte“, die der große Moralist Michael Haneke nach eigenem Drehbuch erzählt (Mitarbeit: Jean-Claude Carrière). Im Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs tut ein junger, gutherziger Lehrer (Christian Friedel) in einem norddeutschen Dorf Dienst – und seine Schüler und deren Familien werden ihm immer unheimlicher. Ein subtiles, am massivsten vom protestantischen Ortspfarrer (Burghart Klaußner) zelebriertes Strafsystem durchzieht, vom Baron bis zu den Bauern, die spätfeudalistische Miniaturgesellschaft – und es kulminiert in eigentümlichen Unfällen, Brandschatzungen und schließlich Kindesmisshandlungen.

Niemand wird persönlich schuldig gesprochen in diesem Schwarzweiß-Film, dessen Titel auf jene Stoffbänder anspielt, die unartige Dorfkinder wochenlang zwecks Sühne tragen müssen. Doch ebenso wenig ist irgendjemand freizusprechen in einer Gemeinschaft, die auf Missachtung, Missgunst, Missbrauch gründet. Vielleicht deshalb wurde „Das weiße Band“ in Cannes flugs als Metapher auf die in den nächsten Riesenkrieg mündende Nazizeit gedeutet: Erziehung zum Duckmäusertum macht Menschen zwangsläufig bestialisch. Haneke selbst hält es in Interviews mit einer Moral, die derlei historischen Engführungen behutsam entgegentritt: „Es ist ein strenger Film über die Gefahren der Strenge.“

Doch nach dem schönsten Triumph, den das Kino einem Künstler bescheren kann, zeigt sich sogar der stets streng wirkende Haneke gelöst. „Glück ist selten“, sagte er, aber jetzt sei er einmal ein glücklicher Mensch. Und Jury-Präsidentin Isabelle Huppert schenkte dem befreundeten Preisträger, mit dem sie bereits zwei Filme gedreht hat („Die Klavierspielerin“ und „Wolfszeit“), eine lange Umarmung auf offener Bühne. Wer nun gleich Kumpanei vermutet, übersieht zweierlei. Die Jury, die über die Werke der Filmkünstler entschied, bestand aus neun Filmkünstlern. Und: Das Weltkino ist eine Großfamilie. Nähe ist unvermeidlich. Und schadet nicht.

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