zum Hauptinhalt
Filmfestival Venedig

© promo

Filmfestival Venedig: Krieg dem Palazzo

Der Auftakt beim Filmfestival in Venedig: Horror von Jaume Balagueró und die melodramatische Romanverfilmung „Abbitte“.

Gewagt ist das schon. Eine riesige Stahlkugel, fünf Meter im Durchmesser und 400 Kilo schwer, hat die weiße Mauer vor dem Palazzo del Cinema zerschlagen und thront nun mitten in einem Loch aus zertrümmerten Ziegelsteinen. Offiziellen Kommuniqués zufolge ist die Kopie jener Abrissbirne, die in Fellinis „Orchesterprobe“ (1979) die Wand einer romanischen Kapelle zerschlägt und dem kakophonischen Treiben der darin versammelten Musiker ein Ende macht, Symbol für den Neubeginn. Schließlich soll in den kommenden drei Jahren auf dem Lido ein neues Festivalzentrum entstehen, in seiner Mitte der mit 2400 Plätzen größte Kinosaal Italiens. Aber funktioniert das Arrangement von Fellinis Ausstatter Dante Ferretti nicht viel besser als Abrechnung: „Krieg den Palästen“ oder, gröber gesagt: „Haut weg dieses marode Festival“?

Keine Frage, Festivalchef Marco Müller hatte es in seiner vierjährigen Amtszeit reichlich schwer. Da war der Kampf ums Geld für eine zeitgemäße Infrastruktur, da waren die Spannungen mit Biennale-Präsident Davide Croff, und letztes Jahr kam auch noch die Konkurrenz des Festivals von Rom hinzu, das demnächst mit einer noch glanzvolleren zweiten Ausgabe an den Start gehen will. Da kann man zum Abschied schon mal böse klotzen. Etwa so: „Was Sie in Venedig entbehren müssen“, schreibt Müller in der Zeitschrift „Film TV“, „sind weichliche und hirnlose Blockbuster, soziologische Anklagen, Reportagen auf Fernsehniveau und globale Ökumenismen.“ Womit der kantig-kauzige Chef sowohl den weltkonsensfähigen mongolischen Berlinale-Sieger als auch das in Cannes siegende rumänische Abtreibungsdrama und die alljährlich ebenso munter wie teuer erworbene römische Starparade in die Tonne getreten haben dürfte.

Gut gebrüllt, venezianischer Löwe! Und wohl auch wirkungsvoll. Schließlich wollen neuerdings plötzlich alle, die am italienischen Kulturrad drehen, „San Marco“ halten (Müllers naheliegender Spitzname gilt längst als Markenzeichen). Und damit auch die traditionell miesepetrigen Journalisten wissen, wohin der Wind weht, kriegen sie am Abend vor der Gala-Premiere gleich einen echten Horror-Schocker geboten.

„REC“ heißt die blutige Schlacht im Geisterhaus, angerichtet von dem spanischen Genre-Experten Jaume Balagueró. Und was sehen unsere entzündeten Augen? Genau, eine jener soeben von Müller gegeißelten „Reportagen auf Fernsehniveau“! Nun, immerhin zu Anfang. Da begleitet die hübsche Lokalfernsehreporterin Angela (Manuela Velasco) für die Sendung „Während du schläfst“ Feuerwehrleute durch die Nachtschicht in Barcelona, und was erst bleiern ereignislos dahinzustreichen droht, entpuppt sich alsbald – wörtlich! – als Einsatz ihres Lebens. Schließlich mutieren die Bewohner des eigentlich harmlosen Altbaumietshauses mit allerdings sehr langen, sehr dunklen Wohnungsfluren binnen jener Nacht allesamt zu Zombies, Kollateralschäden bei den Einsatzkräften nicht ausgeschlossen, wohl aber ein Blockbuster-Happyend. Und der geregelte Nachtschlaf nach dem Genuss von „Während du schläfst“ sowieso: Schließlich hat die Kamera – „REC“ (sic!) – alles, aber auch wirklich alles aufgenommen.

Nach derlei hochvirtuosen Geschmacksverwirrungen, dargeboten im Sonderprogramm „Venezia Notte“, kommt, zur Eröffnung des Wettbewerbs, eine romantische Tragödie im Gewande des Kostümfilms gerade recht. Der 36-jährige Brite Joe Wright, nach seinem erfolgreichen Jane-Austen-Erstling „Stolz und Vorurteil“ (2005) bereits genreerfahren, hat sich Ian McEwans von der Kritik gefeierten Bestseller „Atonement“ (Abbitte) vorgenommen. Was man, gerade als eher zurückhaltender Fan des Kostümfilms, anerkennen muss: In ihrer ersten Hälfte, der Schilderung eines heißen Sommertags 1935 auf einem prächtigen englischen Landgut, ist die Literaturverfilmung adäquat prächtig gelungen. Dann kommen die episch großen Linien der (Kriegs-)Geschichte ins Spiel – und der Film wird, angesichts nur scheinbar kunstvoll gesetzter Zeitsprünge sowie anschwellender Lockgesänge von Piano und Geigen, kleiner und kleiner.

Eine spannungsreich verzerrte Dreiecksgeschichte ist der Ausgangspunkt. Die 13-jährige Briony (glühend kühl: Saoirse Ronan), schreib- und fantasiebegabt, schwärmt für den Sohn der Haushälterin (innig: James McAvoy), seit der sie einmal – es war nur eine ihrer Capricen – aus dem Fluss gerettet hat. Robbie aber liebt Brionys erwachsene Schwester Cecilia (leuchtend: Keira Knightley) – und an eben jenem heißen Tag wird Briony Zeugin von beider heißem Sex in der Bibliothek. Damit nicht genug: Nachts wird eine Kusine im Park offenbar Opfer einer Vergewaltigung. Was läge da näher, als das eigene, explosive Gemisch aus Aufgerührtheit, Eifersucht und Ekel mit einer opportunen Lüge kaltzustellen? Die Schuld verfolgt Briony lebenslänglich; irgendwann, spät, wird sie im Schreiben jene titelgebende Abbitte leisten. Aber Schreiben ist Erfindung, Schreiben kommt immer zu spät.

Unerhört modern hebt der Film an: stürzt sich geradezu in die feurige erotische Anziehung zwischen Robbie und Cecilia und in das faszinierte Entsetzen der die sinnlichsten Szenen immer vorab imaginierenden und anschließend lustqualvoll miterlebenden Briony. Und treibt mit schön nervösem Tempo – und dem Schreibmaschinenklackern als Rhythmusgeber – die spätviktorianisch überkochende Lust auf Lust zielstrebig der Katastrophe entgegen. Der Zweite Weltkrieg dann, der in „Atonement“ eher wie der Erste aussieht, wirkt wie ein dramaturgisches Ritardando: Es kommt Brionys Reifen zur asketischen Krankenschwesterschülerin (Romola Garai), es kommen Atlantikstrand- und Lazarett- und Bunkerszenen und Neben- sowie Nebennebenhandlungen, und es kommt ein schöner Auftritt Vanessa Redgraves als alte Schriftstellerin Briony. Aber hätte alles so breit auserzählt werden müssen, dass – zumindest im feinen Ansatz – der Verdacht auf „weichlich hirnlosen Blockbuster“ entsteht?

Egal jetzt, egal. Nachts nochmal bei Ferrettis Wahnsinns-Stahlkugel vorbei, sie ist angestrahlt, Trockeneisnebel wabert, Abrissstaub spielend, durch den Riss – und plötzlich ist die Kugel unser grauer Planet, aufgehängt im Weltall, und er hat eine Mauer durchstoßen, von der er selbst noch nicht weiß. Irgendwas sehr aktuell Metaphorisches leuchtet auf einmal herüber, reif für die große Menschen-Abbitte oder schon zu spät dafür: Nennen wir’s eine reife Briony-Fantasie.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false