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Filmfestival Venedig: Wie ein rollender Schrein

Wie man den Zuschauer ins Leinwandgeschehen hineinsaugt: Abdel Kechiches Couscous-Melodram und Todd Haynes’ Bob-Dylan-Hommage beim Filmfestival in Venedig.

Im täglichen Festival-Extra der Filmzeitschrift „Ciak“ macht sich der Cartoonist Stefano Disegni so wunderbar über den Bilderrummel am Lido lustig, dass man gern auch über eigene Lieblingsfilme lacht. Zum Beispiel über „La graine et le mulet“ (Couscous mit Fisch), den zweieinhalbstündigen Wettbewerbsbeitrag des in Tunis geborenen Franzosen Abdel Kechiche, den viele auf der Rechnung für den Goldenen Löwen haben. Ob man nicht bitteschön eine halbe Stunde Familiensonntagsessen hätte schneiden sollen, fragt Disegni am Rand einer Zeichnung mit wohlig kauenden Leuten, außerdem 20 Minuten heulende Ehefrauen sowie eine weitere halbe Stunde finalen Bauchtanz?

Recht hat er mit seinem flotten Missbehagen – und unrecht zugleich. Denn Kechiches Kino, das schon in der ruppigen Banlieue-Romanze „L’esquive“ (2003) auf die üblichen Verknappungstechniken des filmischen Erzählens verzichtete, saugt den Zuschauer förmlich ins Leinwandgeschehen hinein. Auch „La graine et le mulet“, der das turbulente Leben einer Einwandererfamilie in Sète kunstvoll natürlich in Kinobilder verwandelt, ist so ein Echtzeitabenteuer. Mit kleinstmöglicher Geschichte: Der von jahrzehntelangem Malochen gebrochene und seit der Scheidung allein im Billighotel lebende Werftarbeiter Slimane (Habib Boufares) verliert seinen Job, doch mit über 60 fängt er noch einmal an. Unterstützt von der ganzen Sippe und besonders tatkräftig von Rym (Hafsia Herzi), der Tochter der Hotelbesitzerin, baut er einen abgewrackten Kutter zum Restaurant um.

Wie dieser zaghafte Mann seinen Traum gewinnt und gleich wieder zu verlieren droht am ersten Bewährungsabend an Bord, gedacht für Behördenvertreter und mögliche Geldgeber: Das ist so umwerfend wie herzergreifend. Eine gewaltige Tragödie wird da geboren aus banalstmöglichem Anlass (plötzlich fehlt der Couscous für 100 Gäste), und atemberaubend von Aberwitz zu Aberwitz gesteigert geraten die Versuche, sie noch abzuwenden. Am Ende teilt der Zuschauer eine Realzeit der Katastrophe und des Glücks, und gerade die lange Schrei-Szene einer betrogenen Ehefrau und der nichtendensollende Bauchtanz, bei dem Rym sich die Seele aus dem Leib zu tanzen scheint, sind von dramaturgisch unerbittlicher Konsequenz.

Nichts wurde dem Zufall überlassen in „La graine et le mulet“, sogar das von Stefano Disegni so hübsch geschmähte Sonntagspalaver wurde mit überwiegend nichtprofessionellen Schauspielern einen ganzen Monat geprobt, um so alltäglich wie möglich auszusehen. Solcher Aufwand dürfte dem alten Ken Loach ein solidarisches Lächeln aufs Gesicht zaubern; ja, der 47-jährige Abdel Kechiche, der in dem Milieu wurzelt, von dem er in seinem dritten Film erneut so souverän und zugleich formal radikal erzählt, muss dem britischen Sozialfilmer-Veteran geradezu wie ein geträumter Sohn erscheinen: Kechiche erzählt vom globalen Migrationsschmerz mit der ganzen Wucht, aber auch der Wärme einer neuen Generation.

Vorkenntnisse sind nicht erforderlich, nur Neugier sollte mitbringen, wer sich in Kechiches Boot heimisch fühlen will – bei den meisten Werken der verblüffend schwachen zweiten Festivalwoche läuft es eher umgekehrt. Die anregendste Fanveranstaltung bietet Todd Haynes mit seinem originellen Bob-Dylan-Porträt „I’m Not There“, das den von Folk zu Rock zu Konvertiten-Gospel zu Country oszillierenden und auch biografisch unsteten Sänger in sieben Identifikationsrollen schlüpfen lässt – vom Jugendidol Woody Guthrie (Marcus Carl Franklin) bis zu Billy the Kid (Richard Gere), der gleichermaßen durch Dylans Disko- wie Filmografie geistert. Besonders hellsichtig ist Cate Blanchetts Widerspiegelungsarbeit geraten: Sie treibt ihre Interpretation des einsamen Superstars der späten Sechzigerjahre ins fast postgeschlechtlich Androgyne – und so wirkt ihr Dylan wie ein düster egomanischer Vorläufer David Bowies aus Haynes’ Glamrock-Hymne „Velvet Goldmine“ (1998).

Mit klarem, kühlem Blick sieht Haynes auf eine längst fremd gewordene Protest- und Poplegende des 20. Jahrhunderts – wäre da nicht die Perspektive der Lebensgefährtinnen (Julianne Moore als Joan Baez und Charlotte Gainsbourg als glühend vernachlässigte Ehefrau), dieser Dylan würde in seiner filmstrukturellen Gebrochenheit vollends zur Kunstfigur. So künstlich etwa, wie Quentin Tarantino in einer Mini-Rolle von Takashi Miikes blutigem und auch sonst farbsattem „Sukiyaki Western Django“ aufscheint, einem Film ausschließlich für Tarantino- und Miike- und Django- sowie Rekord- Bodycount-Fans. Oder so künstlich wie Lee Kang-Sheng in seinem Zweitling „Help Me Eros“, in dem der langjährige Darsteller aus Tsai-Ming-Liang-Filmen selber die Hauptrolle übernimmt: Aale in der Badewanne sowie anstrengend akrobatische Sexszenen einsamer Großstädter zur Selbstentleibungszeit sind die bedeutsamsten Fan-Momente eines Werks, das Produzent Tsai Ming-liang besser gleich selber gedreht hätte.

Bei so viel Getöse tut ein Abdel-Kechiche-Komplementärfilm gut. Auch José Luis Guerins in Straßburg spielender „En la ciudad de Sylvia“ funktioniert zeitweise als Echtzeit-Experiment, nur dass kaum etwas passiert. Ein junger Mann (Xavier Lafitte) kehrt, nach sechs Jahren, für drei flirrende Sommertage „in Sylvias Stadt“ zurück – und nach langem Warten in einem Café meint er sie wiedererkannt zu haben. Doch die Frau (Pilar López de Ayala), der er lange durch Altstadtgassen folgt, ist nicht Sylvia, und dann tröstet ihn ein anderes flüchtiges Glück. Oft ausgesetzt dem Direkttonsummen der Stadt und Bildern von Paaren und Passanten, darf der Zuschauer den Film zärtlich mit eigener Erfahrung und/oder Sehnsucht füllen. Wetten, dass Stefano Disegni auch dazu etwas einfällt, worüber man einfach lachen muss?

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