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Mutterklönchen. In "Womb" lässt Rebecca (Eva Green) ihren toten Liebhaber medizinisch wiederauferstehen.

© Festival

Filmfestival von Locarno: Traurig bin ich sowieso

Noch mehr junges Kino, viele Filme aus Europa und eine entschlossene Programmierung: Das Filmfestival von Locarno will mehr Mut beweisen – und gibt den Vergessenen eine Stimme.

Es ist ziemlich schön in Locarno, am Lago Maggiore. Aber für das traditionsreiche Filmfestival ist der malerische Ort auch eine Bürde. Viele Gäste des Filmfests kommen vor allem, um sich in entspannter Atmosphäre auf die Herbstsaison einzustimmen.

Das muss anders werden, findet Olivier Père, ehemaliger Leiter der renommierten Reihe „Quinzaine des réalisateurs“ in Cannes und seit diesem Jahr Chef des Schweizer Filmfestivals. Auch in Locarno sollen Geschäfte abgeschlossen werden, Premieren Aufsehen erregen, Filme wieder aufwühlen. Père entschlackte das Programm und schärfte das Profil. Noch mehr junges Kino, viele Filme aus Europa und eine entschlossene, teils wagemutige Programmierung.

Zum Beispiel mit harschen Filmen aus Osteuropa. „Beli beli Svet“ über eine Frau, die nach langer Haft aus dem Gefängnis zurückkehrt, ist eine wuchtige, geradezu klassische Tragödie. Schauplatz: eine heruntergekommene ehemaligen Bergbaustadt in Serbien. Ruzica hat ihre Strafe verbüßt, doch ihre Tat greift noch tief in die Gegenwart. Oleg Novkovics Film beeindruckt, weil er die Tragödie, in der übrigens auch gesungen wird, vor allem dazu nutzt, den Vergessenen an der Periphere Südosteuropas eine Stimme zu verleihen. Jasna Duricic erhielt dafür den silbernen Leoparden als beste Hauptdarstellerin.

Auf offene Ablehnung stieß der dritte Film der jungen französischen Schauspielerin und Regisseurin Isild Le Besco: eine wilde Ménage-à-trois junger Frauen, die wie Tiere elend und gelangweilt in einer schmutzigen Wohnung hausen. „Bas- Fonds“ ist eine kaum zu ertragende, einstündige Tour de Force aus Verwahrlosung und seelischer Brutalität, kompromisslos in seiner Verweigerung jeglicher Identifikationsangebote. Manche im Publikum wussten sich nur mit Lachen zu helfen.

Andere Monster wurden zu Publikumslieblingen: Das surreale Horrorexperiment „Rubber“ von Quentin Dupiex („Ich bin ein Freigeist mit Bart“) lässt einen Reifen zum telepathischen Serienkiller mutieren. Die deutsche Zombie-Variation „Rammbock“ spielte geschickt, wenn auch ein wenig harmlos, mit den Genreregeln. Und „Monsters“ beeindruckte als Alien-Katastrophen-Abenteuer, das auf eigene Faust und mit wenig Geld in Mexiko gedreht wurde.

Olivier Père weiß, dass sich der Autorenfilm durchaus mit dem Genrekino verträgt. Und mit Komödien. „Cold Weather“ von Aaron Katz, ein herrlich fotografierter Film über zwei Geschwister in Portland, die zu Detektiven in einem Kriminalfall werden, fand gar den Weg in den Wettbewerb. Andere Komödien, „Cyrus“ etwa von den Gebrüdern Duplass oder der isländische Film „King’s Road“ mit Daniel Brühl in einer Hauptrolle, ließen aber sehr zu wünschen übrig.

Es ist ja auch nicht fair, wenn nur einige Schritte entfernt ein Meister Lehrstunden gibt. Ernst Lubitsch ist unter den Großen der Filmgeschichte noch immer der unbekannteste – eine so glänzend zusammengestellte Retrospektive wie jetzt in Locarno war überfällig. Der sogenannte „Lubitsch-Touch“ mit seinen Andeutungen und Auslassungen, Lubitschs besondere Fähigkeit, Geschichten mit Blicken und Gesten voranzutreiben: Von „Kohlhiesls Töchter“, einem bayerischen Lustspiel mit Emil Jannings (1920), über das frühe Glanzstück „The Marriage Circle“ (1924) bis zum späten Meisterwerk „To be or not to be“ (1942) ließ sich die Entwicklung und Verfeinerung des einzigartigen Erzählstils nachvollziehen. „Bluebeard’s Eighth Wife“ mit Gary Cooper (1938) geriet im überfüllten, ehrwürdigen Ex-Rex-Kino gar zum ausgelassenen Lachfest. Vielleicht das schönste Kinoerlebnis dieses Jahres in Locarno.

Die Erholung tat aber auch gut zwischen den vielen kühlen Filmen des Wettbewerbs. Die deutsch-ungarische Produktion „Womb“ etwa über eine Frau (Eva Green), die ihren ums Leben gekommenen Liebhaber klont – und ihn selbst wie einen Sohn zur Welt bringt. „Künstlicher Inzest“, sagt einer dazu, aber es ist nicht leidenschaftliche Liebe, die Rebecca treibt, sondern der Wunsch nach Nähe. Und Besitznahme. Was aber werden soll, wenn Tommy – wieder – erwachsen wird, darüber hat Rebecca nicht nachgedacht. Der ungarische Regisseur Benedek Fliegauf blendet die Welt in diesem eher undramatischen Film aus, der sich ganz auf die Mutter konzentriert und auf ihren Wunsch nach ewiger Selbstgenügsamkeit. Er spielt daher nicht in einer konkreten Zukunft, sondern in der entrückten Leere einer Winterküste. Eva Greens Blicke – schaurig, traurig, voll kalter Zuneigung. Ein interessanter Film.

Das deutsche Kino war recht präsent in Locarno. Bemerkenswert vor allem der Wettbewerbsbeitrag „Im Alter von Ellen“ über eine Stewardess, die nach einer Panikattacke im Flugzeug aus ihrem Leben fällt. Große Schwierigkeiten habe sie gehabt, sagt Regisseurin Pia Marais („Die Unerzogenen“), eine deutsche Hauptdarstellerin zu finden. Kein Wunder. Eine deutsche Schauspielerin hätte aus Ellen eine dieser Frauen gemacht, wie man sie oft findet im deutschen Kino: ein nervöses Bündel, mit sich und der Welt unzufrieden. Ellen dagegen driftet einfach. Die Französin Jeanne Balibar verleiht ihrer gewollten Verlorenheit glänzend Ausdruck. „Im Alter von Ellen“ hat zwar seine Schwächen – zu lange bleibt der Film im Milieu einer Frankfurter Kommune haften –, beeindruckt hat der Film dennoch.

Es gab auch wieder viele schlechte Filme: zu lang („Hair“, Türkei), unausgegoren („Homme au bain“, Frankreich), harmlos („Morgen“, Rumänien). Das ist unvermeidlich, wenn man Filme von Regisseuren einlädt, die ihre Handschrift erst noch finden müssen. Etliche werden dazu die Gelegenheit nicht bekommen, nur wenigen gelingt es, einen dritten oder vierten Film zu machen. Denjenigen, die das Zeug dazu haben, sollte ein Festival wie dieses eine möglichst große Bühne bereiten.

Mit dem Chinesen Li Jongqi hat ein Regisseur den Goldenen Leoparden gewonnen, der genau dieses Versprechen abgibt. Sein Film „Han Ji“ über vier Heranwachsende in einem nordchinesischen Dorf löst auch ein, was Jia Zhang-Ke, diesjähriger Preisträger des Ehrenleoparden, fordert: „Das Kino“, sagte er beim Publikumsgespräch, „ist der Ort, um historische Veränderungen am Schicksal des Einzelnen erlebbar zu machen.“

Der neue Festivalchef jedenfalls ist ein Anwalt solcher Filme. Wenn er an das Mikrofon tritt und den Film des Abends ankündigt, wirkt er noch steif wie ein Junge, der vor versammelter Schule ein Gedicht vortragen muss. Doch seine Sätze sind voller Leidenschaft für die Filme seiner Wahl, sein Zuspruch nicht laut, aber ansteckend. Beispielhaft auch der neue Festivaltrailer: eine Abfolge schwarz-weißer Standbilder aus Filmen der Locarno-Geschichte, dazu eine eher verhaltene Musik. Träumend, nostalgisch, nachdenklich, aber auch stolz. So könnte es werden, das neue Locarno: selbstbewusst auf leisen Sohlen.

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