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Filmfestspiele Venedig: Wiedergeburt in der Katastrophe

Filmfestspiele Venedig: Werner Herzogs New-Orleans-Drama bietet eine Paraderolle für Nicolas Cage. Fatih Akin wird am Donnerstag "Soul Kitchen" vorstellen.

Lourdes und New Orleans sind sich so fremd nicht. Beides Orte von extremer Verzweiflung und extremer Hoffnung, grausamem Egoismus und ungeahnter Solidarität, Orte, die erschüttert sind von Erfahrungen, die über das Alltägliche hinausgehen, seien es Wunder oder Katastrophen. Orte, an denen der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen ist und doch der Frage nicht entkommt, was Mystik, Glaube, Übernatürliches bedeutet in seinem Leben.

Mit Werner Herzogs „Bad Lieutenant/Port of Call: New Orleans“ und Jessica Hausners „Lourdes“ hat das deutschsprachige Kino am dritten Festivaltag seinen großen Auftritt – nachdem zuvor Todd Solondz mit der freien Fortsetzung seines Meisterwerks „Happiness“ einen ersten Höhepunkt gesetzt hatte. „Life During Wartime“ bringt ein Wiedersehen mit den Schwestern Joy, Trish und Helen, die sich diesmal im sonnigen Florida mit ihren Beziehungen, Komplexen, Hoffnungen und den Geistern der Vergangenheit herumschlagen – ein Kammerspiel, strukturiert durch eine Reihe unglücklich verlaufender Restaurant-Dates, bei denen geheult wird, was das Zeug hält, und die existenzielle Verzweiflung – immerhin geht es um Pädophilie, Perversion, Selbsthass und Selbstmord – durch mindestens so viel schwarzen Humor wettgemacht wird. Vergeben und vergessen – das ist das Motto, das keiner der Beteiligten einhalten kann, und über die Frage, was denn besser wäre, vergeben und erinnern oder alles vergessen und verdrängen, entfaltet der Film seine emotionale Sprengkraft.

Aber zurück zum deutschen Film. Stark im Wettbewerb war er unter Marco Müllers Ägide zuletzt regelmäßig. Für das Gegenwartskino steht in diesem Jahr Fatih Akin, der am Donnerstag seinen mit Spannung erwarteten „Soul Kitchen“ vorstellen wird. In einer Nebenreihe präsentiert Sherry Hormann ihre Verfilmung von Waris Diries autobiografischem Bestseller „Wüstenblume“, ein engagiertes, aber filmisch nicht sonderlich aufregendes Plädoyer gegen Genitalverstümmelung, immerhin mit einer wieder wunderbar ausgeflippten Sally Hawkins als Londoner Freundin. Und als Altmeister ist in diesem Jahr ein ausgesprochen entspannter Werner Herzog geladen, der in Venedig gleich noch die Gründung einer eigenen Filmschule ankündigen will. Ebenfalls im Programm: Herzogs vierminütige „La Bohème“-Version, gedreht im Herzen Afrikas. Und, Herzog zum Dritten, man munkelt, dass sein neuester, 2009 abgedrehter Film „My son, my son, what have ye done“ mit Willem Dafoe und Chloe Sevigny, die Geschichte eines jugendlichen Mörders, als Überraschungsfilm gezeigt wird – Herzog selbst befördert im Interview solche Spekulationen: „Halten Sie die Augen offen.“

New Orleans also, im unmittelbaren Nachbeben des Hurrikans Katrina. Eigentlich hätte der Film, der Abel Ferraras New Yorker Neunziger-Jahre-Drama um einen korrupten, zum Glauben zurückfindenden Polizisten in eine weniger gläubige Gegenwart holt und den Herzog dezidiert nicht als Remake sieht, in Detroit spielen sollen – doch Hauptdarsteller Nicolas Cage plädierte für New Orleans, nicht nur wegen des finanziellen Vorteils eines Drehs im Wasteland samt entsprechender Aufbauhilfen. Egoismus, Gier, Gewalt, aber auch Solidarität in der Katastrophe – das war es, was auch Werner Herzog am Setting reizte. Und in den langen Fahrten durch Barackenviertel, verwahrloste innerstädtische Leerstellen samt ihrer verzweifelten, kriminellen Bewohner hat sein Film fast dokumentarische Züge.

Er zeigt das Leben in einem Katastrophenort, in dem alle Existenz unmöglich schien. So gesehen ist er durchaus verwandt dem zweiten amerikanischen Wettbewerbsbeitrag, John Hillcoats ansonsten eher enttäuschender Verfilmung von Cormac McCarthys verstörendem Bestseller „The Road“, in dem ein verwilderter Viggo Mortensen durch ein postapokalyptisches Amerika irrt, durch Wüsten, abgebrannte Wälder und verlassene Städte, in denen die letzten Überlebenden zu Kannibalen geworden sind, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.

Eine ähnliche Verzweiflung hat Terence MacDonagh erfasst, Detective im Morddezernat des New Orleans Police Department, ausgezeichnet im Einsatz nach Katrina, als er einen Gefängnisinsassen vor dem Ertrinken rettete. Dieser Terence ist ein Getriebener: Mit durch eine Rückenverletzung grotesk verkrümmter Haltung taumelt er durch die Welt, abhängig vom Machtkick, der Allmachtsfantasie eines außer Kontrolle geratenen Ermittlers, aber auch von Schmerzmitteln und Kokain, die er sich zunehmend eigenmächtig besorgt, durchdrungen von dem Bewusstsein, dass alles erlaubt ist, getrieben von Visionen, in denen Leguane eine große Rolle spielen. Diese Wandlung vom Helden zum korrupten Egoisten, der psychische Verfall durch Extremschmerz und Drogenabhängigkeit – auch das eine wesentliche Änderung gegenüber Ferraras Version, die sich an Fragen von Schuld und Vergebung abarbeitete.

Es ist eine Paraderolle für Nicolas Cage – nicht nur, weil der inzwischen in New Orleans lebt und sich in dieser Stadt „wiedergeboren“ fühlt, wie er beim Pressetreffen erläutert, bei dem es ansonsten um die Vorteile einer Mineralwasserdiät, um zweiköpfige Schlangen, ein Schloss in Deutschland, Tierliebe und Sex bei Tieren, um Mystik und übernatürliche Erlebnisse geht. 1995 hatte Cage Werner Herzog noch eine Abfuhr erteilt, als der für „Cortez“ anfragte. Nun stürzt er sich, wie schon in „Leaving Las Vegas“, in die Höllenfahrt eines Abhängigen, den verzweifelten Kampf gegen den Selbstverlust – einschließlich schlussendlicher Rettung durch die Prostituierte Frankie (Eva Mendes). Eine finstere Fahrt durch die menschliche Nacht, ein klassischer Genrefilm, dem Werner Herzog seinen unverkennbaren Stempel aufgedrückt hat, in der düsteren Sicht auf menschliche Abgründe, auf Verzweiflung und das, wozu sie den Menschen treibt.

Überraschend genug kommt die Österreicherin Jessica Hausner mit „Lourdes“ zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Ihr filmisches Porträt einer Pilgerfahrt samt Wunderheilung ist zunächst vor allem eine nüchterne Bestandsaufnahme vor Ort, an einem der extremsten, abschreckendsten Orte der Welt. Nicht umsonst hat Jessica Hausner, die zuvor mit dem Horrorfilm „Hotel“ bekannt wurde, ihren Spielfilm als grausames Märchen, Traum oder Albtraum bezeichnet.

Die kalte Geschäftsmäßigkeit, mit der in Lourdes Krankheit, Glaube und Wunder verwaltet werden, die unpersönlichen Pilgerherbergen, die Routine des Personals, die endlosen Ströme von Rollstuhlfahrern, Kranken, Trostsuchenden, die den festgelegten Ablauf aus Grottenbesuch, Messe, Waschung und Segnung absolvieren, das alles wird geschildert mit dem nüchternen Blick des Feldforschers, durchaus polemisch unterlegt mit Schuberts „Ave Maria“ in der Endlosschleife.

Als die gelähmte Christine, eindrucksvoll reduziert gespielt von Sylvie Testud, tatsächlich geheilt wird, ist dieses Wunder keineswegs eine Erlösung. Befremden, Neid, Unglauben brechen in der Gruppe aus: Ist Christine, die keineswegs besonders gläubig ist, des Wunders würdig? Und ist es nicht nur eine kurzfristige Verbesserung vor dem Rückfall? Eine Gratwanderung an den Grenzen menschlichen Fassungsvermögens. Gott rechnet nicht, er würfelt und lässt sich in seinen Entscheidungen nicht erklären, sagten die Christen. Dass ein Wunder das Leben nicht unbedingt verbessert, ist die skeptische Schlussfolgerung, mit der Jessica Hausner uns entlässt. Christine ist ein kurzer, glücklicher Tanz gegönnt, bevor der Zweifel sie niederstreckt.

Werner Herzog hatte dafür, in einem großartigen Bild, einen Schuss gebraucht, der eine kurz vor dem Exitus wie in einer Traumszene tanzende Seele niederstreckt. Für das Filmfestival sind das zwei Höhenflüge.

Christina Tilmann

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