zum Hauptinhalt
Joseph Gordon Levitt kämpft als Meisterdieb-Gehilfe in einem rotierenden Hotelflur gegen Agenten.

© Warner

Filmkritik: Inception zeigt nie gesehene Bilder

Zum Traum wird hier die Zeit: Christopher Nolans Thriller "Inception" erschließt dem Kino nie gesehene Bilder.

Gedanken, so lautet ein Schlüsselsatz dieses Films, sind widerstandsfähiger als jeder Virus. Einmal in Umlauf gebracht, wuchern sie weiter, wie Geschwüre. Ähnliches lässt sich auch über Kinobilder sagen. Wenn sie stark genug sind, nisten sie sich im Kopf des Zuschauers ein und kehren auch dann noch wieder, wenn die Dialoge schon lange vergessen sind. Christopher Nolans „Inception“ ist voll solcher Bilder. Ein sanft rotierender Hotelflur, in dem Agenten wie in einem schwerelosen Hamsterrad miteinander kämpfen. Der Güterzug, der unter lautem Pfeifen mitten durch die Häuserschluchten von Manhattan donnert. Landschaften aus Schnee und Eis, in denen ein Stoßtrupp in weißen Tarnuniformen eine Betonfestung erobert.

Faszinierend sind diese Szenen, weil sie gleichzeitig hyperrealistisch und höchst irreal wirken. Man glaubt, sie bereits zu kennen, aus den Filmen von Stanley Kubrick, David Lynch und der James Bond-Serie oder aus Gemälden von Magritte oder Dalí. Vor allem aber: aus den eigenen Träumen.

Leonardo DiCaprio spielt einen Meisterdieb, der in die Träume seiner Opfer eindringt, um Geheimnisse aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins zu stehlen. „Extraction“, Entnahme, nennt sich diese perfide Methode der Spionage, die er bis zur Perfektion vorangetrieben hat. AmAnfang liegt Cobb – so heißt DiCaprios Figur – bewusstlos in der Brandung eines Traumstrandes, wie der Geheimagent Bourne, der sein Gedächtnis verloren hat. Aber Cobb vergisst nichts, und dieser Total Recall ist ein Fluch, denn so sucht seine tote Frau, gespielt von Marion Cotillard, ihn immer wieder heim. Er fühlt sich schuldig an ihrem Tod, und sie – eine umgedrehte Orpheus und Eurydike-Story – will in herunterziehen in ihre Unterwelt.

Es dauert eine Weile, bis man begriffen hat, dass der Strand nur eine Kulisse ist, und dass auch die Actionsequenzen des Beginns, in denen sich die Bombenattentate eines Aufruhrs mit wilden Schießereien in einer japanischen Pagode abwechseln, bloß der Traumlogik eines Schlafenden folgen. Den Bildern von „Inception“ ist grundsätzlich zu misstrauen, hinter der eigentlichen Welt lauert immer noch eine andere, geheime Welt, frei nach dem Satz von William Blake, dass unser Universum aus Bekanntem und Unbekanntem bestehe, „und dazwischen sind Türen“. Die dramaturgische Hintertür sind Träume zweiter und dritter Ordnung, die in einem Traum erster Ordnung geträumt werden können und auf noch tiefere Bewusstseinsebenen führen.

„Inception“ bedient die Konventionen des Genrekinos und geizt nicht mit Verfolgungsjagden, Cliffhanger-Momenten und dekorativ explodierenden Feuerbällen. Auch typische, im Kampfgetümmel herausgeknurrte Dialogzeilen wie „Scheiße, irgendetwas läuft schief“ oder „Unser Helikopter ist auf dem Dach“ fehlen nicht. Ansonsten könnte der Film auch als surrealistisches Manifest durchgehen. Für den Zuschauer wird er zum Nahtraumerlebnis.

Der Coup, bei dem Cobb und seine Leute einen japanischen Unternehmer ausrauben wollten, geht schief. Er muss noch einen allerletzten Auftrag annehmen: Diesmal soll er das Gegenteil einer Extraction wagen, eine Idee nicht stehlen, sondern sie im Kopf eines Milliardärserben (Cillian Murphy) platzieren. Eine solche „Inception“ ist hoch riskant und noch niemals geglückt. „Inception“ heißt Anfang, ein programmatischer Titel. Denn so wie aus einem Samenkorn ein Baum entstehen kann, steht am Anfang jeder bahnbrechenden Umwälzung immer ein winziger Bewusstseinssplitter. „Man braucht die einfachste Idee eines Gedanken, damit er im Kopf des Subjekts heranwachsen kann“, weiß Cobb. „Und man muss sie tief genug einpflanzen.“

„Tief genug“ heißt im Fall des Erben, dass die Idee dort in seinem Unterbewusstsein keimen muss, wohin die unbewältigten Konflikte mit seinem Vater gesunken sind. Pete Postlethwaite gibt diesen (Über-)Vater als Kotzbrocken, der auf dem Sterbebett, angeschlossen an die Schläuche der Überwachungs- und Beatmungsgeräte, seinem Sohn – als wäre es eine Szene aus „Citizen Kane“ – nur ein einziges kryptisches Wort zuflüstert: „Enttäuscht.“ Sei autonom! Leb dein eigenes Leben! So lautet die Botschaft, die Cobb im Hirn des Sohns verankern muss. Denn wenn der Erbe diesen Maximen folgt, dann würde er den weltbeherrschenden väterlichen Energiekonzern in seine Einzelteile auflösen. Und das wäre ganz im Sinne von Cobbs Auftraggeber.

Es steckt viel Trivialfreudianismus im Plot von „Inception“, wo die Söhne ewig mit den Vätern zu ringen haben, und wenn der von den Dämonen seiner eigenen Vergangenheit gejagte Cobb in einer Szene tatsächlich mit dem Fahrstuhl hinabfährt in sein Unterbewusstsein, dann ist das eine Metapher von grotesker Plattheit. Hanebüchen altmodisch wirken die Apparate, mit denen sich dieser Arsène Lupin der Parapsychologie und seine Bande in den Schlaf ihrer Opfer einklinken. Mit ihren pumpend arbeitenden Schläuchen erinnern die „Traumsharing“-Geräte an Staubsauger. Ohnehin ist der Look dieses in einer unmittelbaren Zukunft angesiedelten ScienceFiction-Films eher retrofuturistisch. Die Hochgeschwindigkeitszüge sind noch etwas windschnittiger als heute, doch die eng taillierten grauen Gangsteranzüge scheinen direkt den Sixties entsprungen zu sein.

Der britische Regisseur Christopher Nolan gilt mit seinen 39 Jahren als neuer Kino-Wundermann, man handelt ihn bereits als legitimen Nachfolger von Orson Welles und Kubrick. Er hat mit „Memento“ einen Thriller rückwärts erzählt, Al Pacino in „Insomnia“ schlaflos durch eine Mittsommernachts-Ermittlung taumeln lassen und mit „Batman Begins“ die Superhelden-Saga reanimiert. Nach dem Erfolg der Fortsetzung „The Dark Knight“ gab ihm Hollywood carte blanche und ein Budget von 180 Millionen Dollar fürs nächste Projekt, das sich im Drehbuch wie ein Experimentalfilm ausgenommen haben muss.

Nolan versteht das Kino buchstäblich als Traumfabrik. Seinem Mut, bislang noch nie gesehene Bilder zu erfinden, ist es zu verdanken, dass „Inception“ ein großer Film geworden ist. In einer Szene laufen Cobb und seine Traum-Architektin, die wunderbare Ellen Page aus „Juno“, durch Paris, und plötzlich klappen Häuser, Straßen, Parks hoch. Die Stadt faltet sich auf zu einem begehbaren endlosen Band wie von M.C. Escher. In der Phantasie genügt ein Fingerschnipsen, und alle physikalischen Gesetze sind aufgehoben. Man möchte gar nicht mehr aufwachen aus diesem Film.

„Inception“ läuft ab Donnerstag in 26 Berliner Kinos; OV im Cinestar SonyCenter und Colosseum, OmU in den Hackeschen Höfen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false