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Ottinger

© Salzgeber

Filmkunst: Die Welt ist eine Geisterbahn

Filme und Schaubuden sind beides Illusionsgeschäfte. Ulrike Ottinger zeigt in ihrem Film "Prater" mit der Hilfe des einen das andere - und wird dafür im Berliner Filmmuseum gefeiert.

Zeitreisen. Weltreisen: Eine indische Familie, die hingebungsvoll Kostüme aus der Jahrhundertwende anprobiert, um ein Erinnerungsfoto „Wien 1900“ schießen zu lassen. Afrikaner, die beim Pferderennen temperamentvoll ihre Favoriten anfeuern. Türkische Kids, die sich beim „Watschenmann“ vergnügen und HipHop-Kunststücke zeigen. Wer nach Wien reist, geht in den Prater.

Und wer in den Prater geht, der reist. Reiste schon 1900 per Gondel nach Klein-Venedig und schickte von dort Ansichtskarten an die „Daheimgebliebenen“. Bewunderte das Aschanti-Dorf und die Wilden von Borneo, spazierte auf der Weltausstellung von Konstantinopel über Kairo nach Kyoto oder vergnügte sich im Schweizerhaus. Nur die englische Fischbude, die ein findiger Unternehmer eröffnen wollte, war ein Flop: Die Wiener verschmähten seinen Fisch.

Kein Wunder, dass der Wiener Vergnügungspark eine Berufsreisende wie Ulrike Ottinger faszinierte. Sie, die monatelang in China oder in der Mongolei unterwegs war, findet nun vor der Haustür ein Panoptikum der Weltkulturen. Und schickt den Zuschauer mit ihrem Dokumentarfilm „Prater“ genüsslich auf die Reise – durch Geister- und Achterbahnen, Kasperletheater und Wunderkammern, ins Spiegelkabinett und in den Streichelzoo.

Der Prater bietet neben dem Vergnügen auch uralte Geschichten

Und zurück in die Vergangenheit. Ganze Praterdynastien erzählen von Experimenten und Geschäftsideen, von Pech und Pleiten, aber auch von dem Versuch, immer das Neueste der Technik zu bieten. Da gibt es den Prater-Heinzi, der im Lager zärtlich ein altes Motorrad oder einen ausrangierten Saurier vorführt: Alles noch funktionsfähig, versichert er stolz. Auf der anderen Seite lassen sich kreischende Wiener mit „Ejection Seats“, Starflyer oder anderen Höllenmaschinen in den Himmel schleudern. Der Prater ist auch ein einzigartiges Dokument der Technikgeschichte: Alles, was je erfunden wurde, ob in der Raumfahrttechnik oder anderswo, tauchte umgehend als Attraktion auch im Prater auf.

Das gilt auch fürs Kino. Illusionsgeschäfte nennt man im Prater die Schaubuden, so wie das Kino ein Illusionsgeschäft ist. Die ersten bewegten Bilder lösen als Jahrmarktsattraktion die lebenden Bilder ab, die von Akrobaten gestellt wurden. Aus diesem Archivmaterial bedient sich auch Ulrike Ottinger. Der Geburtsort des Kinos ist der Rummel, sagt sie. Was ihre Prater-Homage so anrührend wie vergnüglich, so zärtlich wie nachdenklich macht, ist die Faszination, die die Regisseurin mit den Rummelbesuchern teilt: eine Faszination für Unvollkommenes, für Freaks, Fremdes und Fantastisches. Plastikmonster und Liliputaner. Eine Frau ohne Unterleib oder der große Chinese – wie schon Generationen vor ihr steht auch Ottinger staunend vor dem etwas schäbigen Prater-Zauber. Das Handgebastelte, Angestoßene, Billige und Schrille hat es ihr ebenso angetan wie die unschuldigen Vergnügungen des Kasperletheaters und der Liliputbahn. Der Prater, ein Phobienparadies, sagt Elfriede Jelinek dazu und posiert mit einem großen Gorilla, während Veruschka als Barbarella durch die Geisterbahn turnt und Peter Fitz mit sonorer Stimme Prater-Texte von Elias Canetti bis Erich Kästner vorliest.

Im Filmmuseum begegnet man vor allem der Fotografin Oettinger

Wie gut „Prater“ ins Ottinger-Universum passt, belegt auch die Ottinger-Ausstellung, die zeitgleich im Berliner Filmmuseum eröffnet – als Auftakt einer Reihe „Film-Kunst“, die Regisseure ehrt, die sich nicht auf das Kino beschränken. Nur folgerichtig, dass in der Ausstellung hauptsächlich die Fotografin Ulrike Ottinger zum Zuge kommt: mit ihren auf Recherchereisen und Filmdrehs entstandenen Fotos, die wie eine Begleiterzählung zu den Filmen wirken. Vier Räume, vier Regionen: von Berlin über China und die Mongolei bis in den Osten der „Südostpassage“ und der „14 Stühle“. Besonders bei ihren großen Dokumentarfilmen „China – die Künstler – der Alltag“, „Taiga“, „Exil Shanghai“ oder „Südostpassage“ ist parallel ein immenses Foto-Œuvre entstanden, aus dem die Regisseurin nun schöpfen kann.

Wie in ihren Filmen erweist sich Ottinger in ihren Fotos als unwiderstehliche Zeitvernichterin. Einen geradezu magischen Sog entfachen die Bilder, die als Diashow in einem Extraraum laufen – mit den prächtigen Kostümen, altersklugen Gesichtern, weiten Landschaften voller weißer Pferde, aber auch mit den traurigen Resten der Berliner Industriearchitektur, den Geröllhalden am Gleisdreieck, dem Gasometer in der Fichtestraße, dem alten Stadtbad in der Baerwaldstraße oder den Brachflächen von Gropiusstadt, die Ottinger als Spielort für ihre frühen Berliner Filme gewählt hat. Auch hier dominieren schon die Zirkusgesellschaft, Schausteller, Zwerge und Monsterfiguren, die man nun in „Prater“ wiederfindet. Den Jahrmarkt der Attraktionen findet Ulrike Ottinger überall.

„Prater“ läuft in den Kinos Hackesche Höfe, Delphi und Broadway. Die Ausstellung „Ulrike Ottinger“ im Museum für Film und Fernsehen läuft bis 2. Dezember. Ab 14. Oktober zeigt das Kino Arsenal eine komplette Ottinger-Retrospektive.

Christina Tilmann

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