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Interview: „Donald Duck war mein Avatar“

Popcorn, große Hitze und Fußball sind seine natürlichen Feinde. Wenn man etwas übers Kino wissen will, muss man nur Franz Stadler fragen, den Betreiber des "Filmkunst 66".

Herr Stadler, Sie sind der Grandseigneur der Berliner Kinolandschaft. Was bleibt für ewig in Ihrer Erinnerung?

Eines Tages kam einer meiner Stammgäste mit seinem Sohn zu mir und sagte: „Dieser Junge ist hier in Ihrem Kino gezeugt worden – während des Films ‚Harold und Maude‘. Der Kleine heißt übrigens Harold.“

Kino ist ein Ort starker Gefühle, und es ist dunkel.

Ach, übers Händchenhalten geht das meist nicht hinaus. Sex gibt es auf der Leinwand.

Laut Statistik sind nur zehn Prozent der Kinobesucher alleine, mehr als die Hälfte kommen als Paare.

Manchmal küssen sich zwei nach dem Ende noch stundenlang, dann muss ich die eben mit sanfter Gewalt trennen und nach draußen bugsieren. Wir hatten auch mal ein Paar da, da führte sie ihn am Halsband herein, beide in Sado-Maso-Klamotten. Ich sah die Frau dann später in der letzten Reihe sitzen, er lag daneben flach auf dem Boden. Ich fragte, ob ich helfen könne? Nein, das sei okay so.

Der Regisseur und Oscar-Preisträger Pepe Danquart setzt sich weit nach vorne, nur dort könne er in einen Film eintauchen. Wo ist Ihr Lieblingsplatz?

Im vorderen Drittel, aber nicht in den ersten Reihen. Dort sieht man zu sehr die Auflösung des Bildes, das muss ja im Auge des Betrachters zusammenwachsen. Seltsamerweise nehmen die meisten Besucher hinten Platz, möglichst in der Mitte. Das Kino füllt sich immer in der Form eines Trichters. Ich habe bis heute nicht verstanden, warum.

Wenn man im Archiv die Portraits über Sie liest, sind Sie ein „Programmkino-Urgestein“, eine „Festung des Autorenfilms“, „der Pionier des Off-Kinos“.

Der erste Film meines Lebens war „Die Kinder von Mara Mara“, ein australischer Kinderfilm, da war ich sechs. Ich durfte meinen Onkel begleiten, der war Richter in München und musste beruflich ins Kino und nachsehen, ob ein Film jugendfrei ist.

Ihr Erweckungserlebnis!

Nein, das kam später, als ich etwa 14 Jahre alt war. Ich bin jeden Sonntag am Vormittag in die 11-Uhr-Vorstellung gerannt, da liefen Abenteuerfilme und Western. Eines Tags sah ich „Zwölf Uhr mittags“. Bong! Der hat bei mir eingeschlagen wie ein Blitz. Der Film hat die klassische Einheit von Zeit, Ort und Handlung, was ich damals gar nicht begriffen habe. Ich spürte nur, da läuft etwas total anders. Und dann gibt der Held, Gary Cooper zu, dass er sich fürchtet! So etwas hatte ich noch nie gesehen. Kurz vor dem Showdown lief die Titelmusik und man sah Bilder in einer Schnittsequenz: die Stadt in Angst. So habe ich die Filmkunst entdeckt.

Empfehlen Sie bitte die drei besten Western.

„Zwölf Uhr mittags“ ist dabei. Dann „Der schwarze Falke“ von John Ford…

…wo John Wayne einen rassistischen Südstaatler spielt.

Die Handlung entwickelt sich über einen langen Zeitraum, da stimmt alles, Schnitt, Aufnahmen – das ist vollkommen. „Sacramento“ von Sam Peckinpah zähle ich auch dazu, da ist der Held ironisch gebrochen, zum Lesen braucht er eine Brille, und wenn er sich zum Schlafen legt, faltet er seine Kleider sorgsam zusammen. Schön komisch.

Waren Sie je im Wilden Westen?

Ja, Arizona, Monument Valley, ich wollte die Schauplätze anschauen. Dann ging ein Sandsturm los und man sah gar nichts mehr.

Was ist der Tod des Kinos, Herr Stadler?

Erstens: große Hitze. Zweitens: eine Fußball-WM in Deutschland. Ich dachte 2006, dem setze ich das anspruchsvollste Programm entgegen, das ich je gemacht habe: ein Opern- und Ballettfestival. Aber die haben auch Fußball geguckt! Die Besucherzahlen waren grauenhaft. Ich zeigte zum Beispiel „Den Ring der Nibelungen“, ein vierteiliger Zyklus, jeder Teil dauerte vier Stunden. In einer Pause sahen die Besucher, dass im Foyer ein Elfmeterschießen übertragen wurde, da sagte der harte Kern der Wagnerianer: „Nix da, wir gucken Elfmeter zu Ende, dann kann weiter gesungen werden.“

Haben Sie über die Jahrzehnte ein gutes Gefühl dafür entwickelt, welcher Film ein Erfolg wird?

Im Grunde schon. Doch meine großen Renner waren auch für mich jedes Mal eine Überraschung. „Alles auf Zucker“ von Dani Levy etwa. Oder der italienische Film „Brot und Tulpen“ mit Bruno Ganz, der hatte sogar furchtbare Kritiken bekommen – und lief und lief.

Ist Ihnen klar, was nie floppt?

Woody Allen ist ein Selbstgänger. Der hat sein festes Publikum. Er ist ja auch originell und unterschreitet nie ein gewisses Niveau. Wim Wenders war früher eine sichere Bank, heute nicht mehr. Seine Zeit ist vorbei. „Palermo Shooting“ ging auch daneben, mir persönlich hat er auch nicht gefallen. Bei den jüngeren: Fatih Akin.

Welches war denn Ihre größte Entdeckung?

„L.A. Confidental“. Ich hatte den in Cannes entdeckt und war begeistert. Als ich den Verleih anrief sagten die: Was wollen Sie mit einem Actionfilm? Ich sagte: Das ist großartige Kunst! Später wurde er für neun Oscars nominiert und zwei hat er gewonnen – geschlagen nur von „Titanic“.

Es gibt Profis die fällen ihr Urteil nach acht Schnitten, andere nach fünf Minuten. Wie lange brauchen Sie, um einen Film einschätzen zu können?

Eine Rolle, das sind 20 Minuten.

Das Filmkunst 66 wurde 1966 eröffnet, Sie haben es 1971 übernommen. Die Bleibtreustraße war eine verruchte Gegend, ein Jahr zuvor gab es bei einer Schießerei zwischen Banden einen Toten und viele Verletzte. Es blieb die Verulkung „Bleistreustraße“.

Ja, heute hat die Straße im Grunde ein Pariser Flair. Damals saßen im Café Bleibtreu Zuhälter herum, draußen standen Nutten, die Häuser waren düster und nicht renoviert. Mein damaliger Chef sagte: „Hier kannst du kein Kino machen.“ Im Fensterrahmen des Vorführraums steckte noch eine Kugel von der Ballerei.

Erinnern Sie sich an den Preis?

80000 D-Mark. Ich hatte kurz zuvor 30000 geerbt, den Rest habe ich abgestottert.

Sie wollten anfangs den Namen des Kinos in „Action“ ändern…

…weil ich mich dem Genrekino verschrieben hatte. Ich wollte auch die Regisseure aufwerten. Doch ich hatte nie das Geld für eine neue Leuchtreklame, und als ich es hatte, war der Name Filmkunst 66 bereits so bekannt, dass ein Namenswechsel Blödsinn gewesen wäre.

Erzählen Sie doch mal von den großen Veränderungen, die Sie mit dem Kino durchlebt haben.

Ich hatte ja nach einer Lehre zum Filmkaufmann im Bellevue in Tiergarten gearbeitet…

…einem Spielort, in dem seit langem das Grips-Theater zuhause ist…

…und da zeigten wir Stummfilm-Grotesken, es war die Slapstick-Ära. Da wurden so doofe Kommentare dazu gesprochen, die sagten, was man sowieso sah: „Hui, da kommt ein Auto um die Ecke!“ Bei einem Film mit Harold Lloyd rief jemand im Saal: Stell doch diesen bescheuerten Ton ab! Hab ich sofort gemacht, es hatte mich selbst so genervt. Danach sahen wir in einer Kneipe eine Dixieland-Band, so wurde die Idee geboren: Slapstick plus Livemusik. Das lief jeden Sonnabend sieben Jahre lang mit großem Erfolg. Dann, es wird 1970 gewesen sein, wurde „Easy Rider“ zu einem Renner im Bellevue, fünf Monate lang, dann kam kein Schwein mehr. Plötzlich lief er im Filmkunst 66 – und war ausverkauft! Wissen Sie, warum?

Erklären Sie’s.

Weil jeder Film nur in einem Berliner Kino zu sehen war. Unglaublich, nicht wahr? Die starteten nicht mit fünf oder 20 Kopien auf einen Schlag. Und Easy Rider gab es nun zum ersten Mal in der Innenstadt, deshalb funktionierte es. Als ich das sah, wusste ich, ich kann dieses Kino übernehmen.

Sie wurden bekannt durch die Reihen von Genres: Krimi, Horror, Science Fiction, Mantel-und-Degen-Filme, Western, Erotik…

Ich wollte diese Filme von ihrem schlechten Image befreien. Ich zeigte auch mal eine Reihe Pornos. Interessant war, man musste mehr als die Hälfte des Eintritts für etwas anderes verwenden, also: Bei 10 Mark Eintritt kostete die Karte 4,99 und dazu ein Glas Sekt 5 Mark und einen Pfennig. Dann durfte ich zeigen, was ich wollte. Heute wären diese Filme ab 12 freigegeben.

Bei Ihnen wurde Trash zur Kunst geadelt?

So ist es. Ich wurde nur einmal wegen Pornographie angeklagt. Es handelte sich um „Wet Dreams“, einen Episodenfilm renommierter Regisseure. Die Anklageschrift war 24 Seiten dick, der Richter hatte jede Szene detailgenau beschrieben. Tolles Gedächtnis, dachte ich. Doch der hatte den Film zwei Mal gesehen, die Kinokarten waren als Beweismittel beigefügt. Es ging in die Revision, nach einem Jahr wurde der Film freigegeben, und ich konnte ihn zeigen. Das Kino war rappelvoll.

Was hat sich noch verändert?

Früher wurden Grafiker beschäftigt, die kunstvolle Filmplakate entwarfen, ich habe die Presse selbst eingeladen, ich habe Anzeigen selbst entworfen undundund … Heute machen alles die Verleiher, und als Kinobetreiber darfst du noch die Anfangszeiten dazu setzen. Der eigene Einfluss geht gegen Null. „Time Bandits“ zum Beispiel war überall ein völliger Flop…

…der Film von 1981 wurde durch George Harrison finanziert und vom Monty Python-Akteur Michael Palin mitgeschrieben…

…und ist aus allen Kinos geschmissen worden. Ich habe drei Tage lang an einer originellen Anzeige gebastelt, in der ich groß Monty Python herausgestellt hatte, was der Verleiher vorher verbaselt hatte. Am ersten Tag kamen 700 Besucher, trotz 30 Grad im Schatten.

Genre-Feste gingen heute nicht mehr?

Privatfernsehen, DVD und Video haben das Besucherverhalten völlig verändert. Das Repertoireprogramm, einst die Programmsäule der Programmkinos, ist tot. Als ich anfing, gab es drei Fernsehprogramme, die privaten Sender waren so wenig erfunden wie Video und DVD. Heute kriegen Sie diese Filme in der Videothek, und 750 alte Streifen laufen irgendwann im Fernsehen.

Das schönste Kino?

Der alte Filmpalast am Kudamm. Mir gefällt auch das Alhambra im Wedding, weil es nicht so langweilig ist wie die anderen Multiplexe in Deutschland.

Ein unerträglicher Schauspieler?

Charles Bronson. Ein Prototyp für stumpfe Brutalität.

Und eine Schauspielerin?

Da hab ich keine Hassfigur, ich ertrage auch Veronica Ferres.

Auf wen hätte Ihre Frau eifersüchtig sein müssen?

Jeanne Moreau und Michelle Pfeiffer fand ich toll.

Ein überraschender Besucher?

Das Filmkunst war eine Zeit lang Berlinale-Kino, und Mitte der 70er bekam ich einen Anruf, Jack Nicholson würde zur Mitternachtsvorstellung kommen, der Film eines Freundes habe Weltpremiere. Er kam dann zu spät, Sonnenbrille auf, obwohl es dunkel war, Kippe im Mundwinkel, die Krawatte auf Halbmast – er wirkte ziemlich stoned und quetschte sich durch die Reihen auf seinen Sitz.

Verraten Sie noch Ihren Lieblingsfilm?

Einen? Ich habe 100. Aber einer überragt sie alle meilenweit: „Kinder des Olymp“. Dessen Poesie hat mich menschlich tief gerührt. Ein Pantomime verliebt sich in eine Frau, mit der er zusammen spielen darf, doch lieben darf er sie nicht. Und dann sieht er sie mit seinem Rivalen turteln, während er weiterspielen muss. Das ist überwältigend.

Nach Auskunft der Cinemaxx AG verteilt sich deren Umsatz so: 5 Prozent Werbung, 65 Prozent Tickets und 35 Prozent Gastronomie, also Popcorn, Eis, Käsenachos. Wie war das bei Ihnen?

90 Prozent Eintrittskarten, mindestens. Erdnüsse wollen die Leute, Weingummizeugs, doch unser Klassiker sind Negerküsse zu 50 Cent. Popcorn habe ich im Grunde immer gehasst. Es stinkt doch fürchterlich! Ich war ja mal pleite und habe ein halbes Jahr auf Sylt ein Kino aufgebaut, das ging nicht ohne Popcorn. Man musste nach jeder Vorstellung den Saal säubern. Popcorn lässt sich nicht zusammenfegen – es springt so lustig. Ich wollte schon einen Laubsauger kaufen, da ging der Betreiber pleite und ich wieder ins Filmkunst zurück.

Ihr Kino ist in der Bleibtreustraße 12, Sie wohnen in Nummer 13. Das ist eine kleine Welt.

Aber praktisch. Wenn ein Film läuft, kann ich schnell hin und her gehen. Das ist jetzt bald Vergangenheit. Meine Frau und ich ziehen bald nach Rheda-Wiedenbrück zu den Kindern.

Gibt’s da ein Kino?

Nein. Bielefeld und Gütersloh sind um die Ecke, da bin ich mit den Kinobetreibern befreundet..

Im Blick zurück: Was war Ihr größter Erfolg?

Das Donald-Duck-Festival 1984. Von den 102 Donald-Filmen hatte ich gut 70 besorgt – in der ersten Woche kamen 5267 Besucher. Montags rief eine Disney-Tante an. 1600 gestern, sagte ich. Sie haben 1600 Mark ein genommen?, rief sie. Nicht Mark, Zuschauer! Donald war mein „Avatar“.

Mögen Sie Blockbuster?

Ja, die müssen doch nicht schlecht sein, nur weil Millionen sie sehen wollen. „Avatar“ fand ich gut, ich habe nur Probleme mit 3D-Brillen. Die verkleinern die Menschen so merkwürdig.

Nun werden Sie auf der Berlinale mit einer Kamera für Ihr Schaffen geehrt. Wissen Sie schon, wo?

Nicht genau. Die wollten das im Delphi machen, aber ich gehe nicht ins Kino meines Hauptfeindes.

Bitte?

Dem Georg Kloster gehört das Delphi und das Cinema Paris, der kann mir wegen seiner Größe jeden Film wegschnappen – und tut das auch.

Sie wirken sauer.

Es ärgert mich maßlos, es ärgert mich immer. Manchmal erfahre ich erst aus der Zeitung, dass ein Film, den mir der Verleiher fest zugesagt hat, wider aller Absprachen dort läuft – die Verleiher sind zu feige, es mir persönlich zu sagen.

Mit Ihnen geht, so sagte uns einer aus der Branche, „der Letzte seiner Art“.

So können Sie das sehen. Das ist das Schicksal des Dinosauriers.

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