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Kerstin Nickig: Dokumentarfilm: "Kein Ort"

"Sie werden uns ja nicht umbringen", redet sich Tamara gut zu, die mit ihrem Mann und der kranken Tochter in Wien von der Abschiebung nach Polen und weiter in die Ukraine bedroht ist. Kiew aber erkennt – acht Jahre nach Ende des Kriegs in Tschetschenien – Menschen aus dieser Region nicht mehr als bedroht an und will das Verhältnis zu Russland nicht mit Flüchtlingen belasten.

Flüchtlinge aus dem Nordkaukasus stellen heute die zweitgrößte Gruppe von Asylbewerbern in der EU, in Polen sogar 90 Prozent. Dort wartet der inguschetische Journalist Ali, der wegen Kontakten zu der Reporterin und Menschenrechtlerin Anna Politkowskaja (sie wurde 2006 ermordet) bereits schwere Folter hinter sich hat, seit vielen Monaten auf den Bescheid. Mit Frau und Kind in ein kahles Zimmer gesperrt, tippt er in den Laptop: „Wenn ich zurückkehre, riskiere ich, entführt zu werden, wenn ich bleibe, verrückt zu werden.“

Für die Berliner Filmemacherin Kerstin Nickig, die jahrelang in Russland gelebt hat, war es nicht leicht, tschetschenische Flüchtlinge zu finden, die vor der Kamera über ihre Schicksale zu sprechen bereit waren. Tamaras Mann ist politisch unbelastet und konnte es wagen, ebenso Ruslan, der sich in der Ukraine mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält. Der einstige Kommandeur in der Rebellenarmee Wacha dagegen kämpft weiter: Mit einer offenbar nicht einflusslosen Wienerin verheiratet, setzt er im Internet den Kampf gegen das verhasste Regime in Grosny fort.

Ein Erfolgsfall, drei trostlose Fälle: Der Kontrast verhilft dem Film zu intelligenter Kontur und gültigen Aussagen. Wer unten ist im sozialen Gefüge, wird es auch auf der Flucht bleiben. Die Behörden schalten auf Abwehr, und die Hilfsorganisationen stemmen sich der Abschiebung zwar rührig, aber meist erfolglos entgegen. Intellektuelle müssen im Luftraum des Geistes inneres Asyl suchen. Wer sich dagegen in der Politik einen Namen gemacht hat, wird davon auch in der Fremde profitieren.

Kerstin Nickig fragt nicht nur, sie beobachtet zugleich sehr genau, wie ihre Gesprächspartner leben. Die Rolle des Kommentars zu diesen für sich sprechenden Szenen übernehmen Grenz- und Ministerialbeamte in der Ukraine, Polen und Österreich, die die Aufnahmeprozedur und die Gesetzeslage korrekt erläutern. Das Gefühl, nirgendwo ankommen zu können, suggerieren Bilder aus Zügen auf vorüberfliegende Landschaften. „Kein Ort“ plädiert präzis und nüchtern für ein Menschenrecht: in Frieden leben zu dürfen.

Central und Krokodil (beide OmU)

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